Leben in ständiger Angst vor Gewalt

Wohnungslose Männer und Frauen sind Opfer und Täter - und die Gesellschaft schaut meistens weg / Von Werena Rosenke

 

 

 

 

Stets in Gefahr (ddp)

+Stets in Gefahr (ddp)

 

Fast alle bekannt gewordenen Opfer sind männlich. Seit 2000 wird in den Beiträgen von fünf weiblichen Gewaltopfern berichtet, davon sind drei Frauen getötet worden.

Von den berichteten Fällen von Tötung und Körperverletzung durch Täter außerhalb der Wohnungslosenszene mit Altersangaben seit 2000 sind zehn männliche Opfer unter 30 Jahre alt, 16 sind zwischen 30 und 39 Jahren, jeweils 28 zwischen 40 und 49 Jahren bzw. zwischen 50 und 59 Jahren sowie sechs 60 Jahre und älter. Die weiblichen Gewaltopfer sind Ende 30 bis Mitte 40. Die große Mehrzahl der Opfer ist also 40 Jahre und älter. Auf Grund des häufig, aber nicht durchgehend geschilderten Tathergangs lässt sich erschließen, dass es sich bei den Opfern mehrheitlich um Männer handelt, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben, die in Abrisshäusern, Gartenhäusern, in Zelten und provisorischen Unterständen Unterschlupf gefunden haben. Sie fallen ihren Peinigern auf Parkbänken, Bushaltestellen, Picknickplätzen in die Hände. Manchmal werden sie auch in eine Wohnung mitgenommen oder eingeladen und dort getötet.

Die Täter außerhalb der Wohnungslosenszene sind männlich und jung (. . .), das hat sich seit 1989 kaum verändert. Bei den berichteten Fällen von Tötung und Körperverletzung durch Täter außerhalb der Wohnungslosenszene seit 2000 sind die 19- bis 29-jährigen Männer mit 80 die größte Gruppe, gefolgt von den bis 18-jährigen Männern (59), danach finden sich zehn 30- bis 39-Jährige, vier 40- bis 49-jährige Täter und ein Täter über 50.

Unter den Tätern gibt es junge Frauen: neun bis 18-Jährige sowie fünf Frauen zwischen 19 und 29 Jahren. Eine Täterin ist zwischen 40 und 49 Jahren.

 

 

Die Statistik

 

 

Seit 1989 versucht die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe so kontinuierlich wie möglich Gewalttaten an und unter Wohnungslosen zu dokumentieren.

Hauptinformationsquelle ist immer die Presseberichterstattung. Mit Ausnahme des Jahres 1999 und teilweise auch 2000 hat die BAG einen Presseausschnittdienst beauftragt. Er wertet bundesweit Artikel aus. In der Regel berichten Zeitungen aber nur dann, wenn es einen Polizeibericht gegeben hat.

Alle Todesfälle durch Kälte, alle gewalttätigen Übergriffe und Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt, die nicht in Polizeiberichten auftauchen, werden mit größter Wahrscheinlichkeit auch nicht in der Presse berichtet.

Die Erhebungen und Erkenntnisse der BAG sind, soweit anderes Material veröffentlicht worden ist, immer damit abgeglichen worden. ber

 

 

Im Laufe der 90er Jahre zugenommen haben die Bandenüberfälle. In vielen Fällen, besonders häufig seit 1998/2000, handelt es sich nicht um Einzeltäter, sondern um Zweier- oder Dreierbanden oder kleinere Trupps von vier bis sieben Tätern und Täterinnen. Die beteiligten Mädchen und jungen Frauen treten nie als Einzeltäterinnen auf, sondern sind immer Teil einer solchen gewalttätigen Gruppe bzw. manchmal Teil eines gewalttätigen Paares.

Es gibt bei vielen der gewalttätigen Übergriffe kein wirkliches Motiv für die Tat. Völlig überraschend werden die Opfer - häufig im Schlaf - überfallen. Manche Täter können auch vor Gericht keinen Grund für ihr Tun nennen, außer, dass sie Lust darauf hatten, den "Penner" zusammenzuschlagen. Manche fühlen sich durch den Wohnungslosen provoziert, glauben, dass er sich ungebührlich verhalten habe. Andere zünden einen Wohnungslosen an und verhalten sich, als spielten sie dem anderen einen Streich, und nicht, als fügten sie ihm tödliche Verletzungen zu. (. . .)

Neben der Beiläufigkeit und fast schon Zufälligkeit der Überfälle, ist deren Brutalität auffällig. Ihre Taten bezeichnen die Täter und Täterinnen häufig als "Pennerklatschen" - ein Begriff, der das Ausmaß der Menschenverachtung und des blinden Hasses ausdrückt: Die Opfer, oft wehrlos, weil im Schlaf überfallen, krank, körperlich geschwächt oder auch alkoholisiert und in der Regel deutlich älter werden von den Tätern, oft mit Springerstiefeln, zu Tode getreten, ihre Schädel werden mit Baseball-Schlägern zertrümmert. Sie werden gefoltert, mit Benzin übergossen - ihre Körper sind oftmals bis zur Unkenntlichkeit malträtiert. (. . .)

Ein Teil der Überfälle auf Wohnungslose geht nachgewiesenermaßen auf das Konto rechtsradikaler Jugendbanden. Das betrifft einige Fälle aus den Jahren 1989 bis 1994, aber auch in folgenden Jahren gibt es immer wieder, oft genug tödlich endende Überfälle rechtsradikaler Jugendlicher. In den Berichten ist dann von Tätern aus der Neonazi- und Skinheadszene zu lesen. Darüber hinaus legt ein Teil der Täter ein Verhalten an den Tag, das rechtsextremen Ideologien entspricht, ohne dass die Personen in entsprechenden Organisationsstrukturen verankert sind. Armut, soziale Ausgrenzung, Wohnungslosigkeit gelten den Tätern als Beweis für die Minderwertigkeit des Opfers, die Legitimation für die Täter ist.

Neben dieser oben geschilderten typischen Tätergruppe, gibt es hin und wieder, tätliche Übergriffe von Polizisten und Wachleuten. (. . .)

Obwohl jedes Jahr Wohnungslose getötet oder auf offener Straße misshandelt werden, obwohl die Täter auffallend jugendlich und außerordentlich brutal sind, obwohl sich in zahlreichen Fällen die Täter in einem rechtsradikalen Umfeld bewegen und sogar in einigen Fällen Polizisten und so genannte "Ordnungshüter" an den Übergriffen beteiligt sind, finden diese Taten in der Öffentlichkeit keine nachhaltige Beachtung. Es wird der rechtsextremistische Charakter in den Fällen geleugnet, in denen den Tätern keine entsprechende Organisationsstruktur nachgewiesen werden kann. Doch selbst das Bundeskriminalamt (BKA) spricht seit langem von unzureichenden Erfassungskriterien rechtsextrem motivierter Gewalttaten, so dass die Zahlen "tendenziell nach unten verfälscht" seien (Bernhard Falk, Vize-Präsident des BKA, FR vom 24. 11. 2000)

Es bleibt aber auch die gesellschaftspolitische Brisanz undiskutiert. Ebenso wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus besonders gut gedeihen, wenn es ein Umfeld gibt, das anfeuert oder Überfälle und Pöbeleien duldet, ist es auch bei den Attacken gegen Wohnungslose.


In vielen Städten und Gemeinden ließ sich in den letzten Jahren beobachten, das Menschen verdrängt und vertrieben werden sollten, die durch ihr unangepasstes Aussehen und Auftreten den Stadtfrieden zu stören schienen: Wohnungslose, Bettler, Punks, Drogenkonsumenten. Eine Phalanx aus Kaufmannschaft und Lokalpolitikern machte Stimmung gegen Wohnungslose und Bettler. In vielen Fällen bedienen sich Kommunen "kommunaler Straßensatzungen", um missliebige Bürger und Bürgerinnen aus dem Stadtbild zu entfernen. (. . .)

So ist in den vergangenen Jahren Zug um Zug ein Klima der Ausgrenzung geschaffen worden, das den Gewalttätern zur Legitimation ihrer Gewalt dient.

In diesen Kontext gehört auch die Duldung struktureller Gewalt gegen Wohnungslose. Offensichtlichster Beleg für die strukturelle Gewalt gegen Wohnungslose sind die in jedem Winter zu beklagenden Kältetoten. Seit 1991 sind mindestens 232 Wohnungslose auf der Straße erfroren.

Die Kommunen sind für die Unterbringung und für die Winternotprogramme zuständig. Auf Grund einer von der BAG Wohnungslosenhilfe in 1998/99 durchgeführten Erhebung wissen wir, dass in gut 30 Prozent der Kommunen nach wie vor keine Notunterkunft vorhanden ist. Noch immer treibt ein gutes Drittel der Unterkünfte die Betroffenen tagsüber auf die Straße, in gut 60 Prozent der Einrichtungen wird der Aufenthalt rechtswidrig begrenzt, oftmals auf lediglich drei Tage. Durchgehende Aufnahmezeiten sehen nur 30 Prozent der Einrichtungen vor.

Ein Teil der Wohnungslosen sucht Unterkünfte nicht auf: Sie fürchten dort zu Recht die Enge, den Schmutz, die Möglichkeit der letzten Habseligkeiten beraubt zu werden und nicht zuletzt die Gewalt. Sie suchen aber auch Unterkünfte nicht auf, wenn sie ihren Hund, manchmal der einzige verbliebene soziale Kontakt, nicht sicher unterbringen können, oder wenn sie sich auf Grund starrer Öffnungszeiten am frühen Abend in solch einer Unterkunft gewissermaßen einsperren lassen müssen, weil später eine Aufnahme nicht mehr möglich ist.

Alle diese Gründe sind seit langem bekannt, und trotzdem sind auch in diesem Winter bereits wieder wohnungslose Männer erfroren. Auch die Brandkatastrophe in der Halberstadter Notunterkunft, bei der am 2. Dezember 2005 neun wohnungslose Männer verbrannt sind, hat gezeigt, wie menschenunwürdig und letztlich auch lebensgefährlich Kommunen wohnungslose Bürgerinnen und Bürger unterbringen.

 

 

Die Autorin

 

 

Werena Rosenke ist seit 2003 stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe e. V., zuvor war sie seit 1992 Fachreferentin bei der BAG.

Die Germanistin, Politologin und Publizistin arbeitete auch in der entwicklungsbezogenen Bildungsarbeit. Der hier in Auszügen dokumentierte Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift "Wohnungslos". ber

 

 

Die Gewalt innerhalb der Wohnungslosenszene steht der Gewalt an Wohnungslosen durch nicht zur Szene Gehörende kaum nach. Ein Blick auf die berichteten Fälle zeigt die ungefähren Ausmaße. In der Presse berichtet wurde von 157 Tötungsdelikten unter Wohnungslosen seit 1989. Damit sind mehr Menschen in der Szene selbst getötet worden als durch andere Täter. Die deutlich niedrigeren Zahlen bei den Körperverletzungen sind vermutlich damit zu erklären, dass nur die Spitze des Eisberges in die Öffentlichkeit gelangt - und es deutet darauf hin, dass man sich kaum für die Gewalt interessiert, die an bestimmten Treffpunkten, in Unterkünften und Notquartieren existiert.

Aber nicht nur in der Quantität, sondern auch in der brutalen Qualität der Gewalt stehen die Taten innerhalb der Szene, denen von außen ausgeübten nicht nach. "Klaffende Wunden im Gesicht durch Küchenmesser", "22-Jähriger rammt Zimmergenossen Messer in den Hals", immer wieder tödliche Schläge und Tritte gegen den Kopf - so die Schlagzeilen. Ein 54-jähriger Wohnungsloser wird von zwei anderen in der Innenstadt niedergeschlagen und mit "massiven Fußtritten traktiert", so dass er noch am Tatort stirbt. In einer Obdachlosensiedlung habe ein Nachbar "Ärger gesucht", erklärt der Täter und weiter: Er habe zwar nicht streiten wollen, habe dann aber doch seinen Baseballschläger geholt und "mit voller Wucht" zugeschlagen. Wie oft und warum, wisse er nicht mehr.

Auch bei der Gewalt unter Wohnungslosen lässt sich ein typischer Tathergang beobachten. Unter den in der Presse berichteten Fällen gibt es kaum einen, bei dem nicht ein massiver Alkoholkonsum eine Rolle gespielt hätte. Entweder treffen sich spätere Opfer und Täter an ihren Treffpunkten draußen, in Notunterkünften und Obdachsiedlungen und trinken gemeinsam. Irgendwann bricht ein Streit aus. Manchmal erinnert sich nach der Tat einer daran, dass es um Geld ging oder dass einer die Freundin des anderen belästigt haben soll, oft bleibt der Grund des Streites aber im Dunkeln. (. . .)

Täter und Opfer sind auch bei der Gewalt unter Wohnungslosen von wenigen Ausnahmen abgesehen männlich, wobei die Opfer in der Mehrzahl 40 Jahre und älter sind, die Täter sind mehrheitlich jünger als 40. Aber es gibt keine annähernd so große Altersdifferenz zwischen Tätern und Opfern wie bei der Gewalt durch Täter außerhalb der Wohnungslosenszene. Die meisten Opfer sind zwischen 40 und 49 Jahre alt. Die größte Tätergruppe ist die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen.

Das Leben Wohnungsloser ist von Gewalt geprägt: Von direkter und struktureller Gewalt, von Gewalt in der Szene und vor allem von Gewalt, die oft unvorhergesehen von außen hereinbricht. Die Gewaltakte sind in der Regel, unabhängig vom Täterkreis, außerordentlich brutal, häufig werden die Opfer zu Tode gequält.

Die Gewalt gegen Wohnungslose findet keine nachhaltige Resonanz in der Öffentlichkeit, obwohl die Tatsache, dass diese Gewalttaten eindeutig als Jugendgewalt, in einigen Fällen mit rechtsradikalem Hintergrund, zu identifizieren ist, ins Auge springt.

Werden Wohnungslose zu Tätern, so sind ihre Opfer in der Regel Menschen, denen es genauso schlecht geht, wie ihnen selbst. Aggressivität und Brutalität richten sich nicht nach außen, sondern gegen andere Underdogs.


Die strukturelle Gewalt gegen Wohnungslose wird von der Allgemeinheit prinzipiell hingenommen, als gebe es keine Alternativen zu den Containern und Baracken, die für manche zu tödlichen Fallen werden, oder als sei der Kältetod eben für einige unvermeidbar.

Wendet die Wohnungslosenhilfe sich durchaus parteiisch gegen Erscheinungen struktureller Gewalt, so schweigt sie doch zum Ausmaß der Gewalt unter den Wohnungslosen auf der Straße und in den Unterkünften.

Die Wohnungslosenhilfe sollte es als ihre Aufgabe annehmen, dafür Sorge zu tragen, dass die Gewalt gegen und von wohnungslosen Männern und Frauen auf die politische und gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt wird und dort auch bleibt. Denn der Gewalt und Ausgrenzung kann nur entgegengewirkt werden in einem Klima der Zivilcourage. Politik und Sozialarbeit müssen die Aufgabe akzeptieren, nachhaltige Konzepte gegen Jugendgewalt und rechtsextreme Jugendgewalt zu entwickeln.

Auch das Erfassungssystem rechtsextrem motivierter Straftaten muss verbessert werden, so dass eine Verdrängung und Leugnung dieser Taten unmöglich wird. Neben der offensiven Thematisierung der Gewalt auf der Straße und in den Unterkünften, geht es ganz konkret um den Erhalt der Freizügigkeit auf unseren Straßen. (. . .) Die Bürgerinnen und Bürger sollten ermutigt werden, bereits Pöbeleien gegen Bettler und Wohnungslose nicht hinzunehmen.

 

 

 


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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2006
Dokument erstellt am 19.02.2006 um 15:40:05 Uhr
Erscheinungsdatum 20.02.2006

 

 

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