Streit um Kosten für
Sozialticket
Bedürftige sollen ab November für 29,90 Euro pro Monat Bus
und Bahn fahren können. Was als NRW-weites Projekt gedacht war, droht nun in
einem Tarif-Flickenteppich zu enden: Viele Städte lehnen die Einführung des
Tickets ab, weil sie befürchten, einen Teil der Kosten selbst tragen zu müssen.
VON GERHARD VOOGT UND ULRIKE WINTER
Düsseldorf Das Sparen ist für Remscheids Stadtverwalter
längst zur Grundhaltung geworden: Für das früher kostenlos zugängliche
Röntgen-Museum muss die Kommune, die 560 Millionen Euro Schulden hat,
inzwischen Eintritt verlangen, die Remscheider Stadtteilbüchereien können nur
noch dank ehrenamtlicher Bibliothekare öffnen. „Und bis 2020 müssen wir 300 der
1800 Stellen in der Verwaltung abbauen“, heißt es aus dem Büro der
Oberbürgermeisterin Beate Wilding. „Wie sollen wir da
vermitteln, dass wir 400 000 Euro für ein Pilotprojekt Sozialticket ausgeben?“
Es lässt sich nicht vermitteln - deshalb ist Remscheid eine der ersten Kommunen
in NRW, die auf die geplante Einführung des Bus- und Bahntickets für Bedürftige
verzichten.
In den nächsten Wochen müssen die Kommunen in
Nordrhein-Westfalen entscheiden, ob sie das Sozialticket für die Bezieher von
Transfermitteln anbieten oder nicht. Das Land stellt dazu in diesem Jahr 15
Millionen und ab 2012 jährlich 30 Millionen Euro zur Verfügung. „Das ist viel
zu wenig, um die tatsächlichen Kosten zu decken“, sagt Ralf Witzel,
Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP im Düsseldorfer Landtag. Der Liberale
rechnet mit einem möglichen Defizit von bis zu 100 Millionen Euro. Im
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) sind die Kosten für Tickets im Schnitt nur zu
43 Prozent gedeckt - der Rest muss vom Land oder den Kommunen übernommen
werden.
Neben Remscheid hat deshalb auch Wuppertal bereits
beschlossen, auf das Ticket zu verzichten. Kämmerei-Leiter Alfred Lobers geht davon aus, dass seine Stadt 1,3 Millionen der
anfallenden 2,1 Millionen Euro selbst tragen muss. Solingen will die Einführung
des Tickets noch prüfen. Die Klingenstadt hat ein finanzielles Risiko von 150 000
Euro errechnet.
Die Städte gehören dem VRR an, der es seinen Mitgliedern
freistellt, ob sie das Sozialticket einführen wollen. Der Verbund will das
Angebot zunächst in einem Pilotversuch testen. Das verbilligte Monatsabo der Preisstufe A soll ab November 29,90 Euro
kosten. Anspruch darauf haben nach einer Richtlinie des Landes NRW unter
anderem alle Personen, die Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe erhalten. Der
Nachweis zur Berechtigung soll durch Jobcenter und städtische Ämter erfolgen.
Normalerweise werden im VRR für ein vergleichbares Abo 50,77
Euro fällig. Das Sozialticket sei eine Belastung für viele „hart arbeitende
Geringverdiener“, sagt Witzel. Diese fühlten sich „zu
Recht bereits heute durch diverse Steuer- und Abgabenerhöhungen gegenüber Sozialleistungsbeziehern
benachteiligt“.
Während die Liberalen die Einführung des Sozialtickets für
einen Irrweg halten, kritisiert die Linkspartei, die Abos seien viel zu teuer.
Bei den monatlichen Regelsätzen für Hartz-IV-Empfänger
seien nur 15 Euro für Mobilität vorgesehen, sagte Bärbel Beuermann,
Fraktionschefin der Linken im Düsseldorfer Landtag. „Das Sozialticket verdient
seinen Namen nicht. Wir fordern, dass auch Geringverdiener die Möglichkeit
bekommen, öffentlichen Nahverkehr verbilligt nutzen zu können.“
In Dortmund war ein Sozialticket bereits 2008 für 15 Euro im
Monat angeboten worden. Als sich die Kosten zwei Jahre später verdoppelten,
sank die Zahl der Nutzer von 24 000 auf 7700.
Um einen Flickenteppich im Tarifsystem zu verhindern, hat
die Landesregierung die Regierungspräsidenten nun per Erlass darüber
informiert, dass auch die hoch verschuldeten Nothaushaltskommunen an dem
Pilotversuch des VRR teilnehmen dürfen. Dass diese sich dadurch vom Projekt
überzeugen lassen, ist jedoch unwahrscheinlich. „Erst wenn wir sicher wissen,
dass uns als Stadt keinerlei Kosten entstehen, werden wir neu denken“, sagt
Sven Wiertz, Sprecher der Remscheider
Oberbürgermeisterin. Die Stadt warte derzeit auf einen genaue Kostenaufstellung
des VRR.
Für den Wuppertaler KämmereiLeiter
Alfred Lobers, der ebenfalls vom Erlass profitieren
könnte, ist bereits jetzt klar: „In dem Schreiben heißt es, dass wir über die
Teilnahme eigenverantwortlich entscheiden müssen.“ Die Stadt habe Kredite in
Höhe von 1,85 Milliarden Euro laufen, das strukturelle Jahresminus liege bei
200 Millionen Euro. „Vor diesem Hintergrund wäre es schlicht unverantwortlich,
Geld für das Sozialticket auszugeben“, sagt Lobers.
Der erst kürzlich gefasste Beschluss der Wuppertaler
Stadtwerke, die Bezüge der Vorstände um bis zu 20 Prozent anzuheben, habe damit
inhaltlich nichts zu tun, sagt Lobers. „Unternehmen,
die im Wettbewerb stehen, müssen Menschen verpflichten, die diesem Wettbewerb
standhalten.“ Horst Becker, NRW-Staatssekretär für Verkehr (Grüne), kritisierte,
dass die Stadt Wuppertal die Einführung des Tickets ausgerechnet vor diesem
Hintergrund ablehne. „Das scheint mir eine falsche Prioritätensetzung zu sein“,
so Becker.
Publikation
Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Lokalausgabe Rheinische
Post Düsseldorf
Erscheinungstag
Donnerstag, den 01. September 2011
Seite 3