„Obdachlose gelten nicht unbedingt als arm“. Verteilungsforscher erklärt, ob bei der Armutsquote getrickst wird und warum wir so wenig über Reiche wissen.

 

„Obdachlose gelten nicht unbedingt als arm“

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Obdachlose in der Frankfurter B-Ebene.
 Foto: Sascha Rheker

Der Verteilungsforscher Markus Grabka erklärt im FR-Interview, ob bei
der Armutsquote getrickst wird und warum wir so wenig über Reiche
wissen.

Markus Grabka will das Interview in seinem Büro führen und nicht im großen Konferenzraum im Deutschen

Institut für Wirtschaftsforschung. Die Regale links und rechts an den
Wänden sind übervoll mit Büchern und Ordnern. Grabka schafft zwei Stühle
für die Besucher heran, die zwischen den Regalen und den am Boden
ausgelagerten Ordnern eingepasst werden. Er habe zurzeit sehr viele
Forschungsaufträge, erzählt der wichtigste Verteilungsforscher der
Republik. Armut, Reichtum, Ungleichheit – diese Themen stoßen zurzeit
auf großes Interesse. Grabka ist der Mann, der die Daten am besten
kennt. Und der weiß, ob bei der Armutsmessung getrickst wird, wie oft zu
hören ist

Herr Grabka, niemand will arm sein. Wäre eine Welt ohne Armut möglich?
Das kommt darauf an, was man unter Armut versteht.

Was verstehen Sie darunter?
Es
gibt unterschiedliche Definitionen. In Europa hat man sich auf das
Konzept der relativen Armut verständigt: Wer weniger als 60 Prozent des
mittleren Einkommens zur Verfügung hat, ist arm – oder von Armut
bedroht, wie die Bundesregierung diese Menschen seit 2008 nennt. Dieses
Konzept verwenden europaweit Forscher, Regierungen, Sozialverbände.
Dabei geht es darum, einen Schwellenwert festzulegen, ab dem keine
ausreichende sozio-kulturelle Teilhabe mehr gewährleistet ist.

Nach dieser Definition wäre es also möglich, dass niemand in Deutschland arm ist?
Theoretisch
schon – wenn jeder Bürger mindestens 60 Prozent des mittleren
Nettoeinkommens hätte. Ein Single müsste dann mindestens 949 Euro im
Monat zur Verfügung haben, eine Familie mit zwei Kindern mindestens 1994
Euro. Praktisch sieht das aber anders aus. Denn tatsächlich ist das
Armutsrisiko in Deutschland sogar gestiegen. Bis Ende der 1990er-Jahre
waren ungefähr zehn Prozent der Menschen von Armut bedroht, danach ist
der Anteil auf 15 Prozent gestiegen.

Stimmt
das wirklich? Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ behauptet, dass es
sich bei der Armutsmessung um einen „statistischen Trick“ handelt.

Alle
statistischen Kennziffern haben Vor- und Nachteile. Die FAZ kritisiert
unter anderem, dass die Armutsquote nicht sinkt, selbst wenn sich alle
Einkommen verdoppeln würden. Das ist richtig und auch einfach erklärbar.
Die in Deutschland verwendete Armutsgrenze ist nämlich relativ und
bezieht sich immer auf das mittlere Einkommen. Aber zu bedenken ist,
dass sich die Einkommen in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren gar
nicht verdoppelt haben. Vielmehr hat die Mittelschicht real nicht mehr
Geld zur Verfügung als um die Jahrtausendwende. Die mittleren Einkommen
stagnieren seither. Und der Anteil der Menschen, die weniger als 60
Prozent dieses mittleren Einkommens haben, ist eben auf 15 Prozent
gestiegen.

Warum spricht die FAZ dann von einem Trick?
Nun,
wenn man ein alternatives Armutskonzept verwendet, sieht das Phänomen
Armut weniger problematisch aus. So geht es beim Konzept der absoluten
Armut eher darum, ob Menschen bestimmte Grundbedürfnisse nicht
befriedigen können, ob sie zum Beispiel kein Dach über dem Kopf haben
oder keine ausreichende Nahrung haben. Absolute Armut in diesem Sinne
ist in Entwicklungsländern immer noch verbreitet. In Deutschland hat sie
kaum Relevanz.

Auch die
sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles hat gesagt, die
derzeit gültige Armutsdefinition führe in die Irre. Warum wird die
Armutsmessung plötzlich so massiv angegriffen?

Ein
tatsächliches Problem des relativen Armutskonzepts ist die Fokussierung
auf das Einkommen. So werden beispielsweise nicht-monetäre staatliche
Leistungen wie Bildungsangebote vernachlässigt.

Das ist seit Jahren so und erklärt nicht, warum die Armutsmessung gerade jetzt heftig kritisiert wird.
Ich
war noch nicht fertig. In den 2000er Jahren wurde die Parole
ausgegeben: Sozial ist, was Arbeit schafft. Tatsächlich ist Deutschland
eines der OECD-Länder, in dem besonders viele Erwerbslose von Armut
bedroht sind. Derzeit stellen wir aber Folgendes fest: Obwohl eine
Rekordbeschäftigung vermeldet wird, ist die Armutsrisikoquote nach den
Daten des Statistischen Bundesamts seit 2006 deutlich gestiegen. Diese
scheinbare Diskrepanz ist schwer vermittelbar.

Warum steigt die Armutsquote trotz gesunkener Arbeitslosigkeit?
Unsere
Analysen deuten erstens darauf hin, dass vom Jobaufschwung vor allem
die obere Hälfte der Einkommensbezieher profitiert hat. Vereinfacht
gesagt: Der Mann hat bereits eine Stelle, der Haushalt hat also schon
Einkünfte oberhalb der Armutsrisikoschwelle, und jetzt hat auch die Frau
einen Arbeitsplatz gefunden. Zweitens ist die Zahl der
Langzeitarbeitslosen nur geringfügig zurückgegangen. Drittens nimmt das
Problem der Altersarmut wieder zu, was nicht weiter verwunderlich ist.
Schließlich sind die ausgezahlten Renten aus der gesetzlichen
Rentenversicherung in den letzten 15 Jahren preisbereinigt deutlich
zurückgegangen.

Gelten eigentlich alle Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfänger als arm?
Nun,
ein Ministerialbeamter würde vermutlich sagen: Diese Menschen sind
nicht arm, da es sich beim Bezug von Grundsicherungs-Leistungen wie
Hartz IV um bekämpfte Armut handelt.

Können wir denn festhalten: Selbst die schärfsten Kritiker der Armutsmessung halten Obdachlose für arm?
Nicht
unbedingt. Die Weltbank definiert als absolute Armut, wenn man weniger
als 1,25 Dollar am Tag zur Verfügung hat. Hat ein Obdachloser mehr, ist
er nach Weltbank-Definition nicht arm.

Die
Wissenschaft versucht, Armut berechenbar zu machen. Gleichzeitig ist
der Begriff moralisch aufgeladen – Armut ist eine Anklage. Schon in der
Bibel steht: „Es soll kein Armer unter Euch sein.“

Wir
erklären in unseren Berichten genau, was wir unter Armut verstehen. Nur
so kann man sich dem Thema glaubwürdig widmen. Richtig ist, dass es hier
um Werte und Normen geht. Hinter jeder Armutsdefinition stehen
normative Festlegungen. Sie könnten beispielsweise die Armutsschwelle
auch bei 55 oder 65 Prozent des mittleren Einkommens festlegen, dann
würde die Armutsquote steigen oder sinken. Aber egal, wo Sie die Grenze
ziehen: Die Stärke dieser Definition ist, dass man mit ihr herausfinden
kann, in welcher Gruppe die Armut wächst und ob die Ungleichheit größer
oder kleiner wird.

Wie hat sich die Ungleichheit entwickelt?
Seit
Ende der 1990er-Jahre gibt es einen signifikanten, auch im
internationalen Vergleich starken Anstieg der Ungleichheit in
Deutschland. Die Einkommen der obersten zehn Prozent sind stark
gestiegen, die mittleren Einkommen sind nahezu unverändert geblieben.
Menschen mit geringen Einkünften haben real sogar verloren. Ich rede
hier von den preisbereinigten verfügbaren Einkommen, also
Nettogehältern, Kapitaleinkommen, Sozialtransfers. Konkret bedeutet
dies: Menschen aus der Mittelschicht können sich heute nicht mehr
leisten als vor 15 Jahren.

Dann will Nahles von der wachsenden Ungleichheit ablenken, wenn sie das Konzept kritisiert?
Lassen
wir uns überraschen, was der nächste Armuts- und Reichtumsbericht
bringt, und ob die Regierung ein alternatives und vielleicht
verbessertes Konzept vorstellt.

Die Wirtschaft ist seit der Jahrtausendwende stark gewachsen. Davon müsste das Gros der Bürger doch profitiert haben…
Das
war früher in Deutschland der Fall. Seit der Jahrtausendwende
funktioniert dieses Prinzip nicht mehr generell. Wenn man sich nur die
Lohnentwicklung anschaut, stellt man sogar fest, dass es seit Mitte der
1980er-Jahre praktisch keine Steigerung bei den preisbereinigten
mittleren Verdiensten mehr gab. Dagegen haben Unternehmens- und
Vermögenseinkommen an Bedeutung gewonnen, von denen vor allem die
obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher profitiert haben.

Über
Arme weiß man viel: Sie sind oft arbeitslos oder alleinerziehend. Man
weiß, wo sie leben und welche Ausbildung sie haben. Über Reiche weiß man
kaum etwas. Warum?

Bislang war die Wissenschaft eher
zögerlich, Vermögende zu befragen. Es wurde befürchtet, dass diese
Personen sich Bevölkerungsbefragungen gegenüber verweigern. Faktisch ist
es weiterhin so, dass Top-Vermögende, also Multimillionäre und
Milliardäre, in Umfragen nicht erfasst werden. In der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes werden diese sogar
explizit weggelassen. Zudem ist mit dem Aussetzen der Vermögensteuer
1997 eine wichtige Statistik verloren gegangen, um Reichtum in
Deutschland beschreiben zu können. Deswegen muss man andere Quellen
heranziehen. Als Beispiel sind hier der Global Wealth Report oder auch
die Forbes-Liste über die Zahl der Dollar-Millionäre beziehungsweise
-Milliardäre zu nennen.

Und was sagen diese Quellen?
Wir
haben keine exakten Angaben zur Vermögensungleichheit in Deutschland,
aber unter Berücksichtigung der Unsicherheit der Datengrundlagen gehen
wir davon aus, dass den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung etwa 65
Prozent des gesamten Vermögens gehört. Das ist im Euro-Raum einer der
höchsten Werte. Der typische Reiche in Deutschland ist Unternehmer,
männlich und lebt in Westdeutschland.

Zur Person

Markus Grabka wurde 1968
geboren und hat in seiner Heimatstadt an der Technischen Universität
Informatik und Soziologe studiert. Seit 1999 arbeitet er am Deutschen
Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Der Forscher hat
zahlreiche Beiträge über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in
Ost- und Westdeutschland veröffentlicht.

Der
gebürtige Berliner hat viele Jahre im wissenschaftlichen
Gutachtergremium der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der
Bundesregierung mitgearbeitet. Auch für den Sachverständigenrat zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Wirtschaftsweise)
hat er Berechnungen erstellt. Grabka ist Mitglied in der Internationalen
Vereinigung zur Erforschung des Volkseinkommens und Vermögens (IARIW) .
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Warum ist die Vermögensverteilung in Deutschland so ungleich?
Zum
einen haben wir große Unterschiede zwischen Ost und West – schaut man
sich die Vermögensverteilung nur im Westen an, ist die Verteilung
gleicher. Dazu kommen weitere historische Entwicklungen: Nach dem
Zweiten Weltkrieg flüchteten 20 Millionen Menschen ohne jede Habe nach
Deutschland, diese mussten erst Vermögen aufbauen. Eine weitere Ursache
ist die Wirtschaftsstruktur: Hier zu Lande existieren viele
mittelständische Unternehmen in Familienhand.

Das bedeutet: Die hochgelobte mittelständische deutsche Wirtschaft trägt zur höheren Ungleichheit bei?
Soweit
wir wissen, ist nicht nur das Geldvermögen besonders stark auf einige
Haushalte in Deutschland konzentriert, sondern auch das
Betriebsvermögen. Aus der Studie „Vermögen in Deutschland“ wissen wir
zudem, dass Erbschaften bei wohlhabenden Haushalten eine besondere Rolle
für den Vermögensaufbau spielen. Das aktuelle Erbschaft- und
Schenkungssteuergesetz erlaubt zudem, Betriebsvermögen von einer auf die
andere Generation weiter zu reichen, da dieses unter bestimmten
Voraussetzungen komplett steuerfrei übertragen werden kann.

Reichtum wird vererbt. Armut auch?
Es
scheint diese Tendenz zu geben. Unsere Untersuchungen zeigen: Die
Chance der ärmsten zehn Prozent der Haushalte, ihre Position in der
Einkommenshierarchie zu verbessern, hat in den vergangenen 20 Jahren
abgenommen.

Früher hat man höhere
Steuern erhoben, um die Ungleichheit einzudämmen. Heute sind
Steuererhöhungen für viele Politiker ein Tabu. Wieso eigentlich?

Die
öffentliche Debatte beruht nicht immer auf Fakten. Das sieht man sehr
schön bei der Erbschaftsteuer. Da sagt Ihnen jeder Politiker: An die
Erbschaftsteuer trauen wir uns nicht ran, weil in der Bevölkerung das
Gefühl herrscht, dass sie selbst davon betroffen wären. Obwohl das mit
den Fakten nicht übereinstimmt. Betrachtet man die Erbschaften, die 2012
besteuert wurden, dann lag der tatsächliche durchschnittliche
Steuersatz bei 5,8 Prozent. In dieser Rechnung sind die vielen kleinen
Erbschaften und Schenkungen, die komplett steuerfrei sind, noch nicht
einmal enthalten. Und trotzdem fürchten viele Bürger, dass ihre
Erbschaft wegbesteuert wird.

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