2017 rund 640.000 neue Widersprüche

 

Aus: Ausgabe vom 15.01.2018, Seite 5 / Inland

Widerstand gegen Willkür

Jobcenter mussten 2017 erneut Hunderttausende rechtswidrige Hartz-IV-Bescheide revidieren. Zahl der Sanktionen steigt wieder

Von Susan Bonath
 
Die Bundesagentur für Arbeit sorgt für den sozialen Abstieg

Hartz IV ist ein Dschungel unklarer Regeln. Kaum verständliche
Gesetze eröffnen Sachbearbeitern in Jobcentern weite
Ermessensspielräume. Auf der anderen Seite stehen existenzielle
Grundbedürfnisse von Betroffenen zur Debatte. Die Folgen: Auch im
vergangenen Jahr war die Gegenwehr groß. Jobcenter und Gerichte mussten
erneut Tausende fehlerhafte Bescheide aufheben.

Das geht aus einer am Freitag veröffentlichten neuen Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor, über die zuerst Bild
berichtete. Demnach gingen 2017 rund 640.000 neue Widersprüche bei den
juristischen Abteilungen der Jobcenter ein, etwa 1,4 Prozent weniger als
2016. In gut 226.000 Fällen gingen sie zugunsten der Betroffenen aus.
184.000 Eingaben waren im Dezember noch unbearbeitet. 112.000 abgelehnte
Widerspruchsführer zogen weiter vor ein Sozialgericht. Damit schrumpfte
die Zahl der neuen Klagen um knapp drei Prozent gegenüber 2016.
Insgesamt waren 46.400 Kläger erfolgreich. Etwa 40 Prozent der ihnen
vorgelegten Bescheide erklärten die Gerichte insgesamt für rechtswidrig.

Es trifft die Schwächsten

Etwa
ein Drittel der Kläger und 43 Prozent der Widerspruchsführer wehrten
sich dagegen, dass Jobcenter ihnen Vermögen angerechnet und aus diesen
oder anderen Gründen Leistungen eingestellt oder zurückgefordert hatten.
Zweithäufigster Grund für juristische Gegenwehr waren die Ausgaben für
Unterkunft und Heizung. Fast jeder fünfte Kläger und jeder siebte
Widerspruchsführer ging laut BA gegen unvollständig erstattete
Wohnkosten vor. Jobcenter berufen sich dabei in der Regel auf die
niedrigen Mietobergrenzen der Kommunen. Bei zugleich kaum vorhandenem
»angemessenen« Wohnraum führt dies nicht selten dazu, dass
Leistungsbezieher einen Teil der Miete und der Nebenkosten aus ihrem
Regelsatz abzweigen müssen.

Um das heikle Thema Sanktionen ging es allerdings in nicht einmal
fünf Prozent der Widersprüche und Klagen. Das könnte daran liegen, dass
solche Strafkürzungen der Grundsicherung häufig die Schwächsten treffen.
Diese Bilanz zog jedenfalls 2016 die Hans-Böckler-Stiftung. Sie hatte
eine Studie des BA-Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
ausgewertet. Mit Sanktionen belegt würden demnach vor allem sehr junge
Menschen und solche mit mangelhafter Bildung. »Gering Qualifizierten
fehlt schlicht das nötige Wissen, um sich vor drohenden Sanktionen zu
schützen«, kritisierte die Stiftung.

Brutale Strafen

Seit 2016 kletterte die bundesweite Sanktionsquote von monatlich drei auf
3,2 Prozent im September 2017. In Berlin waren zuletzt sogar 5,2 Prozent
der Bedürftigen sanktioniert; bei den als arbeitslos Erfassten waren es
sogar 6,2 Prozent. Im September verhängten die Jobcenter insgesamt
91.590 neue Strafen, gut 20.000 mehr als einen Monat zuvor. Im
Jahreszeitraum Oktober 2016 bis September 2017 registrierte die BA
953.600 neue Sanktionen, mehr als drei Viertel davon wegen
Meldeversäumnissen. Verhängt wurden diese gegen rund 420.000 Bedürftige.
Das ist fast ein Zehntel der 4,3 Millionen erwerbsfähigen Bezieher ab
15 Jahren bis zum Rentenhalter. Somit kürzten die Ämter erneut
zahlreichen Betroffenen mehrfach innerhalb eines Jahres für drei Monate
die Grundsicherung, in rund 7.300 Fällen pro Monat sogar bis auf null.

Immer wieder entscheiden Jobcenter regelrecht bizarr. Anfang Januar zog die
auf Sozialrecht spezialisierte Bremer Anwaltskanzlei »Rightmart« zu den
Vorkommnissen im Jahr 2017 Bilanz. Danach erklärte etwa das Jobcenter im
bayrischen Biberbach einen Mandanten »aufgrund seiner
Persönlichkeitsstruktur« für »nicht erwerbsfähig«. Es habe ihm die
kompletten Leistungen gestrichen, um ihn zum Beantragen von
Erwerbsminderungsrente zu zwingen, resümieren die Anwälte Philipp
Hammerich und Jan F. Strasmann. »Deswegen klagt er jetzt gegen die
Diagnose des Sachbearbeiters.« In Düsseldorf habe das Jobcenter einer
Jugendlichen die Leistungen auf 30 Euro reduziert. Der Grund: Sie habe
nach dem Tod ihres Vaters eine neue Unterkunft suchen müssen und
vergessen, pünktlich die Weiterbewilligung der Leistungen zu beantragen,
so die Anwälte. Einen Fauxpas der besonderen Art habe sich auch das
Jobcenter Havelland geleistet: Um nicht zahlen zu müssen, habe es
kurzerhand den Bekannten einer Alleinerziehenden zum Vater ihres Kindes
erklärt. Der Mann habe ihr einmal 160 Euro wegen einer finanziellen
Notlage überwiesen.

Während die Jobcenter Hartz-IV-Bezieher mit
akribischem Aufwand gängeln und kontrollieren, verbuchte die
übergeordnete Bundesagentur einen Spitzenerfolg. Wie sie am Donnerstag
informierte, übertrifft ihr Überschuss für 2017 die kürzlich durch die
Medien kolportierten Zahlen um eine halbe Milliarde Euro. Tatsächlich
kann sie ihre Rücklagen demnach mit 5,95 Milliarden auf 17,2 Milliarden
Euro auffüllen. »Wir haben gut gewirtschaftet«, freut sich Valerie
Holsboer vom BA-Vorstand für Ressourcen in der Mitteilung. Der Willkür
gegenüber Hartz-IV-Beziehern dürfte das keinen Abbruch tun.

https://www.jungewelt.de/artikel/325264.widerstand-gegen-willk%C3%BCr.html