In Deutschland ein Fünftel von Armut bedroht. EU-weit 23,5 Prozent

Aus: Ausgabe vom 09.11.2017, Seite 5 / Inland

Soziale Ausgegrenzung

In Deutschland gilt ein Fünftel der Bevölkerung als von Armut bedroht

Von Jennifer Weichsler

Am Spreebogen in Berlin 2017: Bürogebäude für Bundestagsabgeordnete und Zelte von Obdachlosen

Foto: Kay Nietfeld/dpa

Knapp 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind von Armut oder
sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht etwa 16 Millionen Menschen,
wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mitteilte. Die
Daten für das Jahr 2016 stammen aus der Erhebung »Leben in Europa
(EU-SILC)«. EU-weit liegt der Schnitt der Zahl der Betroffenen bei 23,5
Prozent. Exakt beträgt der Anteil in der Bundesrepublik 19,7 Prozent der
Bevölkerung. In allen Altersgruppen ist das Risiko für Frauen höher als
für Männer, am größten ist der Abstand zwischen den Geschlechtern in
der Altersgruppe ab 65 Jahre.

Eine Person gilt als von Armut oder
sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn mindestens eine der folgenden drei
Lebenssituationen zutrifft: Ihr Einkommen liegt unter der
Armutsgefährdungsgrenze, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller
Entbehrung betroffen oder sie lebt in einem Haushalt mit sehr geringer
Erwerbsbeteiligung.

Im EU-Durchschnitt waren demnach 17,3 Prozent
der Bevölkerung von Armut bedroht und 7,5 Prozent von erheblicher
materieller Entbehrung betroffen. 10,4 Prozent lebten in einem Haushalt
mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung. Arme Menschen hätten oft große
Schwierigkeiten, »am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen«,
erklärte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der
Hans-Böckler-Stiftung.

16,5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, etwa jeder sechste, war
armutsgefährdet. Als solches gilt ein Mensch, wenn er über weniger als
60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. 2016 lag dieser
Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 1.064
Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.234
Euro im Monat.

Sabine Zimmermann, stellvertretende Vorsitzende
der Bundestagsfraktion der Linkspartei, verwies auf die Verantwortung
der scheidenden Bundesregierung. Obwohl die Fakten schon seit Jahren
bekannt seien, habe sie es versäumt, wirkungsvolle Maßnahmen zur
Armutsreduzierung zu ergreifen. Das neue Kabinett werde sich daran
messen lassen müssen, »ob es gelingt, möglichst viele Menschen aus der
Armutsfalle zu holen«, so Zimmermann. Unter anderem müssten der
Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht sowie Leiharbeit und sachgrundlose
Befristungen verboten werden. Hartz IV gehöre abgeschafft; die
Einführung einer sanktionsfreien Mindestsicherung sei dringend nötig,
die tatsächlich existenzsichernd ist. »Die gesetzliche Rente muss durch
Anhebung des Rentenniveaus auf mindestens 53 Prozent, Abschaffung der
Kürzungsfaktoren und der Rente erst ab 67 sowie die Einführung einer
Solidarischen Mindestrente gestärkt werden, damit niemand im Alter in
Armut leben muss«, so Zimmermann.

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