Jeden Monat im Schnitt 7.300 Menschen sogar vollständig sanktioniert

 

Aus: Ausgabe vom 25.01.2017, Seite 5 / Inland

Härte gegen die Schwachen

Hartz-IV-Leistungen ein Grundrecht? Ach was, weniger geht immer.
Was aus Tausenden »sanktionierten« Menschen wird, ist der Regierung
egal

Von Christina Müller

Notfalls betteln? »Sanktionierte« Hartz-IV-Bezieher haben wenig Möglichkeiten an ein paar zusätzliche Euro zu kommen

Foto: Lino Mirgeler/dpa

Hartz IV sichert die menschenwürdige Existenz gerade noch ab. Zu
diesem Schluss kam vor zweieinhalb Jahren das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG). Zu einem Ende der Sanktionen führte das nicht: Wer nicht
pariert, dem wird das »Gerade-noch«-Minimum verwehrt. Laut aktueller
Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren von Oktober 2015 bis
September 2016 jeden Monat im Schnitt 7.300 Menschen sogar vollständig
sanktioniert: Weil sie zu wenige Bewerbungen nachgewiesen oder Jobs
abgelehnt hatten, erhielten sie ein Vierteljahr lang weder Geld zum
Leben noch für Miete und Heizung. Was aus den Betroffenen geworden ist,
weiß die Bundesregierung nicht. Das erklärte sie in einer am Wochenende
veröffentlichten Antwort. Der Regierung sei offenbar »das Schicksal der
Betroffenen völlig egal«, rügte Fragestellerin Katja Kipping (Die
Linke).

Sozialverbände verweisen seit langem auf Zusammenhänge
zwischen steigender Obdachlosigkeit und den repressiven Strafen der
Jobcenter. Schätzungen zufolge tendiert die Anzahl der Betroffenen
derzeit gen eine halbe Million. Erkenntnisse fehlen der Regierung auch
hierzu, wie sie kürzlich einräumte. Sie pocht auf den Erhalt der
Strafen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
rechtfertigte das Vorgehen mehrfach gegenüber jW damit, dass
Sanktionierte im Bedarfsfall schließlich »Sachleistungen, in der Regel
Lebensmittelgutscheine« beantragen könnten. Doch die Hürden dafür sind
hoch.

So gibt es Essensmarken erst ab einer Sanktion um mehr als
30 Prozent. Die Zahlungen an Alleinstehende müssen damit unter einen
gekürzten Monatsbetrag von 286 Euro rutschen. Bedacht wird nur, wer
einen Antrag stellt – oft beim selben Sachbearbeiter, der die Sanktion
verhängt hat. Der kann auch ablehnen, etwa wenn der Antragsteller nicht
beweisen kann, kein »Vermögen« zu besitzen, das sich versilbern lässt.
Ferner ist kein Supermarkt verpflichtet, den Geldersatz zu akzeptieren.
Auch Fahrkarten, Hygieneartikel und die Stromrechnung können
Sanktionierte damit nicht bezahlen. Viele schämten sich, mit den Marken
an einer Supermarktkasse aufzufallen, kritisieren Erwerbslosenvereine.

Dass das BVerfG den Anspruch Erwerbsloser auf die volle
Hartz-IV-Leistung schon 2010 zum bedarfsabhängigen, »unverfügbaren« und
»jederzeit einzulösenden« Grundrecht deklarierte, kümmert Gesetzgeber
und Behörden wenig. Nicht nur, dass Wohnen, Mobilität und weitere
Grundbedürfnisse davon ausklammert werden. Auch wertmäßig erreichen
Gutscheine nicht ansatzweise das Hartz-IV-Minimum. Das legt die BA in
ihrem neuen Infoblatt namens »Wesentliche Eckwerte zu den Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für das Jahr 2017« dar.
Ein zu 60 Prozent sanktionierter Alleinstehender, dem 163,60 Euro
bleiben, kann demnach nur Lebensmittelscheine bis zu 62 Euro zusätzlich
erhalten. Vollsanktionierten werden sie nur im Wert bis zu 205 Euro
gewährt. Das ist der halbe Regelsatz.

Wie vielen Betroffenen
Jobcenter tatsächlich Sachleistungen gewährt haben, bleibt aber unklar.
Auch das weiß die Bundesregierung nicht, wie sie auf Kippings Anfrage
darlegte. Zweifelsfrei lässt sich der BA-Statistik entnehmen, dass im
zuletzt bemessenen Jahreszeitraum rund 417.000 Menschen mit knapp
950.000 Sanktionen belegt wurden. Sie mussten ihr Dasein eine Zeitlang
unterhalb des Hartz-IV-Minimums fristen. Das sind fast zehn Prozent der
4,3 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.

Auch das Sozialgericht Gotha hält die Strafpraxis für verfassungswidrig. Sie
hebele das Sozialstaatsgebot aus und verstoße gegen die Grundrechte auf
Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und Berufsfreiheit, heißt es
in dessen Richtervorlage. Damit muss sich nun Karlsruhe
auseinandersetzen. Der Verein »Tacheles« soll dem höchsten Gericht dazu
Fallbeispiele von Sanktionierten liefern. Das berichtete Harald Thomé
vom Vorstand. Gerichtssprecher Jens Petermann zeigte sich gegenüber jW erfreut: »Dass es jetzt zu einer Anhörung kommt, ist ein gutes Zeichen«, meinte er am Montag.

Fragen danach, wie es um das Existenzminimum der Sanktionierten bestellt ist,
beantworteten Ministerium und Agentur bislang nicht. BA-Sprecher Paul
Ebsen bat jW am Montag um Geduld: Am Dienstag sei »der fachlich
kompetente Kollege« ganztägig außer Haus. Danach werde dieser sich um
Antwort bemühen.

https://www.jungewelt.de/2017/01-25/021.php