Jeder vierte Obdachlose ist eine Frau. Obdachlosenunterkünfte in NRW auch im Sommer häufig überfüllt

Obdachlose Frauen:
„Wer mit Taschen kommt, fliegt raus“

Jeder vierte Obdachlose ist eine Frau

Jeden Morgen ab zwanzig vor acht sitzt sie auf
demselben Stein vor dem Bochumer Ruhrstadion. Sie wartet, bis ein paar
andere obdachlose Frauen kommen, dann gehen sie in die Bahnhofsmission
und zur Frauendiakonie zum Wäschewaschen. Mittags holt sie sich ein
Essen in der Suppenküche und „ab zwei, drei Uhr ist der Tag dann hin“.
Am schlimmsten sei es sonntags, da wisse man gar nicht wohin. Einer  vom
VfL Bochum habe mal gefragt, ob sie kostenlos ein Essen wollten. Sie
seien aber nicht hingegangen: „So, wie wir angezogen waren…“ Dabei habe
sie immer darauf geachtet, nicht verwahrlost auszusehen: „Wer mit vielen
Taschen ins Café kommt, wird gleich ‘rausgeschmissen.“ Irgendwann habe
jemand sie angesprochen und ihr den Weg zu einer Beratungsstelle
gewiesen.

Die Frau, die das erzählt, möchte anonym bleiben.
Anonym und unsichtbar. So wie die meisten der mehr als 6400 Frauen in
NRW, die nach Angaben des NRW-Sozialministeriums ohne Wohnung sind.
Jeder vierte Obdachlose in NRW ist eine Frau – Tendenz steigend. „Dass
wohnungslose Frauen dennoch in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen
werden, liegt daran, dass sie oft alles unternehmen, um ihre
Wohnungslosigkeit nicht zu zeigen“, sagte NRW-Sozialminister Karl-Josef
Laumann am Donnerstag bei einer Fachtagung in seinem Ministerium.
Wesentlich häufiger als Männer kommen sie vorübergehend bei so genannten
Bekannten unter, die aber im Gegenzug nicht selten sexuelle
Dienstleistungen verlangen.

Die Gründe der Wohnungslosigkeit sind vielfältig:
Jobverlust, Arbeit zu Niedriglöhnen, Trennung vom Partner und die
Wohnungsnot. Bei Marie-Annerose Schmidt ging es ganz schnell. Ihr
Arbeitgeber stand kurz vor der Pleite und zahlte den Lohn nicht mehr
regelmäßig. Sie geriet mit der Miete in Rückstand und verlor ihre
Wohnung, wie die 59-Jährige aus Niederbayern erzählt. Niemand habe ihr
geholfen, alle hätten darauf verwiesen, dass sie erst die Ansprüche
gegen ihren Arbeitgeber durchsetzen müsse. Und für einen neuen Job hätte
sie auf dem Land ein Auto gebraucht.

Eine Zeitlang kam Schmidt bei einer Bekannten
unter. Dann reiste sie von ihrem letzten Geld nach Köln. Sie hatte
gehört, dass es dort Hilfsangebote gibt. Heute lebt sie in einer
Wohngemeinschaft für Frauen, die von Sozialarbeitern betreut wird. „Ich
bin absolut eigenständig, kann über mein Geld allein verfügen“, betont
Schmidt. Viele wohnungslose Frauen nähmen die Hilfen nicht an, weil sie
befürchteten, entmündigt zu werden.

Auch sei das Hilfsangebot meist auf Männer
zugeschnitten, sagte Monika Kleine, Geschäftsführerin des Sozialdiensts
katholischer Frauen in Köln mit 450 Mitarbeitern, „Not-Unterkünfte für
Frauen gibt es kaum“. Und Frauenhäuser stünden nur bei Gewalterfahrungen
zur Verfügung. Kleine forderte die Landesregierung auf, den Kommunen
Vorgaben im Wohnungsbau zu machen, damit es mehr bezahlbare Wohnungen
gibt und das Hilfssystem auszubauen. „Die Kommunen sind damit
überfordert“, sagt die Sozialarbeiterin. Alleinerziehenden werde
manchmal schon eine bloße Nebenkostenerhöhung um ein paar Prozent zum
Verhängnis, ergänzte ein Kollege aus Viersen.

Ein Vertreter des Düsseldorfer Caritasverbands
forderte Laumann auf, eine Wohnraumschutzsatzung wie in Bayern zu
erlassen, damit nicht immer mehr Wohnungen in den Städten als
Ferien-Apartments zweckentfremdet würden. Der Minister sagte zu, den
Vorschlag zu prüfen, sieht aber vor allem Städte und Gemeinden in der
Verantwortung: „Die Kommunen müssen dafür sorgen, dass es mehr spezielle
Angebote für wohnungslose Frauen gibt“. Sie müssten für Betroffene von
Räumungsklagen ausreichend Not-Wohnungen zur Verfügung stellen. Das Land
unterstützt die Kommunen bisher nur mit jährlich einer Million Euro.
Zum Vergleich: Der Landesetat hat ein Volumen von 75 Milliarden Euro.

Christiane Caldow von der Diakonie Ruhr in Bochum macht ihren Kollegen trotzdem Mut: Dank hartnäckiger Lobbyarbeit entstehe selbst in Bochum, einer Stadt mit einem Not-Haushalt, eine ganz neue Unterkunft für Obdachlose. Mit einem separaten Trakt für Frauen und Mütter mit ihren Kindern. Und mit medizinischer Versorgung und Suppenküche vor Ort.

https://rp-online.de/nrw/landespolitik/jeder-vierte-obdachlose-in-nrw-is...

 

Diakonie schlägt Alarm:
Obdachlosenunterkünfte in NRW auch im Sommer häufig überfüllt


Nicht nur im Winter haben Obdachlose in NRW häufig Probleme, einen Platz
zum Schlafen zu finden. Auch im Sommer ist der Andrang in Unterkünften
für Wohnungslose groß

Wegen stark gestiegener Mieten sind
Obdachlosenunterkünfte in Nordrhein-Westfalen nach Angaben der Diakonie
mittlerweile auch im Sommer oft überfüllt. „Ich finde es erschreckend,
dass das auch schon in Städten der Fall ist, die gar nicht so einen
hohen Mietspiegel haben“, sagte Sabine Damaschke von der Diakonie
Rheinland-Westfalen-Lippe der Deutschen Presse-Agentur. „Wo sollen die
Leute noch hin? Es ist sicherlich eine ganz dramatische Situation.“

In Großstädten seien die Mieten regelrecht
explodiert, die Einkommen dagegen kaum gestiegen. Der soziale
Wohnungsbau werde zugunsten privater Investoren vernachlässigt. Auf
diesem Wohnungsmarkt haben viele Menschen demnach keine Chance mehr. Das
führe dazu, dass etwa auch in einer Stadt wie Dortmund - wo die Preise
deutlich unter dem Niveau von Düsseldorf lägen - Notunterkünfte für
Frauen auch in den Sommermonaten deutlich stärker belegt seien.

Ein anderes Beispiel sei die sogenannte
Straffälligenhilfe. „Wenn heutzutage jemand aus dem Knast kommt, kriegt
der auch nicht mehr ohne weiteres eine Wohnung“, sagte Damaschke. „Die
Vermieter winken ab.“ Die Diakonie versuche daher, leer stehende
Wohnungen zu renovieren. Dort würden dann Menschen untergebracht, die
sonst vielleicht in Notunterkünften leben müssten.

Christoph Grätz vom Caritasverband für das Bistum
Essen bestätigte: „Menschen, die in unseren Einrichtungen der
Wohnungslosenhilfe leben wie zum Beispiel dem Carl-Sonnenschein-Haus in
Oberhausen, haben zur Zeit kaum Chancen, in reguläre Wohnungen
vermittelt zu werden.“ In vielen Kommunen seien die ehemaligen
Sozialwohnungen inzwischen aus der Mietpreisbindung gefallen. Es gebe
einfach zu wenige Sozialwohnungen.

 

(jco/dpa)
https://rp-online.de/nrw/panorama/obdachlosenunterkuenfte-in-nrw-auch-im...