Mobilitätsarmut: Ghettoisierung der Überflüssigen

Das Blätchen 17. Jahrgang | Nummer 17 | 18. August 2014

Mobilitätsarmut: Ghettoisierung der Überflüssigen

von Albrecht Goeschel / Klaus M. Skubich

Die Nachwuchsforscher des Institutes der Bundesagentur für Arbeit
haben soeben eine unglaubliche Entdeckung verkündet: Danach gibt es
einen Zusammenhang von Niedriglöhnen und Stadtteilunterschieden. In
bestimmten Stadtvierteln, so die Jungwissenschaftler, wohnen gehäuft
Niedriglöhner beziehungsweise Niedriglöhner landen bevorzugt in
bestimmten Stadtvierteln. Gut, dass das endlich herausgefunden und
ausgesprochen worden ist. Und noch eine tolle Erkenntnis haben die
Arbeitsmarktforscher gewonnen: „Im Ergebnis kann innerstädtische
Einkommenssegregation dazu führen, dass sozioökonomisch schwächeren
Bewohnern qualitativ schlechtere lokale öffentlich Ressourcen und
Netzwerke zur Verfügung stehen.“
In Wahrheit sind diese tollen Erkenntnisse so arg neu auch wieder nicht:
Friedrich Engels hat da in seinen Mitte des 19. Jahrhunderts
erschienenen Untersuchungen zur Lage der Arbeiterklasse in England
ziemlich voluminös und konkret getextet. Mitte des 20. Jahrhunderts hat
dann Lewis Mumford das Thema erneut, wenn auch reichlich
großstadtfeindlich, sprich: reaktionär angepackt und derzeit heißt es im
avancierten Urbanismus-Diskurs allenthalben: „Learning from Favelas“.
Aber: Warum sollen die jungen Bundesagenturler das Dreirad nicht ruhig
noch einmal erfinden?
Da gibt es tatsächlich ein sehr viel ekelhafteres Thema im gegenwärtigen
Urbanismus-Betrieb: „Smart-City“. Propagiert wird eine „Stadt“, in der
durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie
„intelligente“ Lösungen für ganz unterschiedliche Bereiche der
Stadtentwicklung wie Infrastruktur, Gebäude, Mobilität, Dienstleistungen
oder Sicherheit erzielt werden. Jens Lübbe vom Deutschen Institut für
Urbanistik: „Hier werden mehr oder weniger unverblümt Interessen global
tätiger Konzerne verfolgt… Städte werden dabei als Marktplätze der
Technologieanwendung begriffen.“Dieser neoliberal-technizistische
Urbanismus hat es dabei nicht schwer, das bisher in Deutschland noch
dominierende sozialstaatlich-biedermeierliche Urbanismus-Leitbild
„Europäische Stadt“ (Rothenburg o.T. etc.) auszustechen. Dessen
Innenstadt-Idylle ist ja bekanntlich längst zur
Gentrifizierungs-Ideologie verkommen – siehe München, Frankfurt,
Leipzig, Berlin.
Und: Die urbanistische und mobilitäre Wirklichkeit sieht sowieso ganz
anders aus. Deutschland wurde schon im Jahre 2005 von der Europäischen
Kommission dafür kritisiert, dass es in seiner Lebenslagen- und
Armutsberichterstattung die Rolle der Versorgung mit 
Verkehrsdienstleistungen für die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen
restlos ignoriert hatte. In der Tat: Nicht nur überging und übergeht die
regierungsamtliche Armutsberichterstattung geflissentlich die zentrale
Bedeutung ausreichender Mobilität, das heißt bezahlbarer
Verkehrsdienstleistungen für die Dämpfung von Armut durch Nutzung von
Daseinsvorsorgeangeboten. Ganz im Gegenteil: Wenn der amtliche Regelsatz
für Langzeitarbeitslose und Altersarme im Monat 19,90 Euro für
Öffentlichen Personenverkehr vorsieht, dann bedeutet dies faktisch die
Ghettoisierung dieser Bevölkerungsgruppe. Den  für das Geschäftsmodell
Deutschland angeblich Überflüssigen wird Mobilität verweigert – was eine
Fixierung an ihren Wohnstandorten bedeutet. Hinzu kommt, dass
Langzeitarbeitslose und Altersarme gedrängt werden, Wohnungen die teurer
als 299 Euro im Monat sind zugunsten von Wohnungen aufzugeben, die auf
oder unter diesem Kostenlevel liegen – solche Wohnungen gibt es aber nur
in abgehängten Quartieren.
Auch ohne diese Vertreibungsmaßnahmen bewirkt in den wachstumsstarken
Regionen die Verknappung von preisgünstigem Wohnraum – infolge des
jahrzehntelang vernachlässigten sozialen Wohnungsbaus – über stetig
steigende Mieten und Nebenkosten eine Ab- und Zusammendrängung
einkommensschwacher Alleinerziehender, Teilzeitbeschäftigter,
Langzeitarbeitsloser und Altersarmer. Einkommensschwache in boomenden
Regionen geraten zwischen die unlösbare Alternative, entweder für
innerstädtisches Wohnen mit geringeren Mobilitätskosten den größten Teil
ihres Einkommens aufwenden zu müssen oder in periphere
Segregationsquartiere ziehen zu müssen und dadurch mit hohen
Mobilitätskosten oder faktischer Arrestierung belastet zu werden. Es
kommt aber noch schlimmer: Auch in den bisher vermeintlich
privilegierten Suburbia-Zonen um die Kernstädte herum werden die
mehrheitlich weiblichen Hinterbliebenen der deutschen Normalfamilien in
die absehbare Kostenschere zwischen den steigenden Energieaufwendungen
für ihre Eigenheime und den schon lange gesenkten Hinterbliebenenrenten
ihrer Männer geraten. Insgesamt bedeutet dies eine zunehmende
Abhängigkeit wachsender Teile der Bevölkerung von einer leicht
erreichbaren dezentralen Versorgungs- und Daseinsvorsorgeinfrastuktur
oder einer bezahlbaren Verkehrsversorgung.
Wenn allerdings schon in allernächster Zeit die deutsche Schuldenbremse
und der europäische Fiskalpakt ihre Wirkung entfalten, ist mit genau dem
Gegenteil zu rechnen. Nach Berechnungen der Friedrich Ebert-Stiftung
wären bis 2020 etwa 38,4 Milliarden Euro Investitionen für den
kommunalen Personennahverkehr erforderlich. Stattdessen wird unter dem
Konsolidierungsdruck die Daseinsvorsorgeinfrastruktur aus Gründen der
„Wirtschaftlichkeit“ weiter zentralisiert werden und die öffentliche
Verkehrsversorgung eher verteuert und/oder abgebaut als ausgebaut
werden. Dabei gilt unter Fachleuten als ausgemacht, dass das geheim
verhandelte neue Handelsabkommen zwischen der EU und den USA, bekannt
als die sogenannten „TTIP“-Verhandlungen, vor allem auch eine weitere
Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge bringen wird.
Insbesondere das sogenannte „TISA“-Abkommen über den Handel mit
Dienstleistungen, ein Teilpaket der EU-USA-Verhandlungen, wird von
Fachleuten sehr kritisch gesehen. Die Schuldenbremse und der Fiskalpakt
bieten hier den idealen Vorwand, öffentliche Ausgaben einzusparen und
private Gewinnmöglichkeiten zu eröffnen. Zu einer günstigeren Versorgung
mit Verkehrsdienstleistungen und einer erhöhten Mobilität der
Einkommensschwachen wird dies alles nicht beitragen.
Dass von dieser Koalition der Besserverdienenden und auch ihren
Vorgängerregierungen keine soziale Mobilitätspolitik sondern
Ghettoisierungspolitik zu erwarten war beziehungsweise zu erwarten ist,
muss nicht weiter erörtert werden. Dass allerdings auch die Wohlfahrts-
und Sozialverbände gegenüber dieser Ghettoisierungspolitik komplett
ignorant bleiben, ist schwer zu verstehen. Die entscheidende Bedeutung
des komplementären Verkehrsaufwandes einerseits und eines
rentabilitätsgerechten Einzugsgebietes als Randbedingungen für die
Standortwahl von Versorgungs- und Daseinsvorsorgeeinrichtungen ist allen
Infrastrukturplanern seit Jahrzehnten wohlbekannt. Die GroKo hat
angekündigt, dass sie möglichst viele Krankenhausstandorte eliminieren,
das heißt die Krankenhausversorgung stark zentralisieren möchte. Die
Öffentlichkeit muss erfahren, dass von dieser Krankenhauszentralisierung
vor allem die Einkommensschwachen – und das sind die Immobilen –
betroffen sein werden. Eine Gruppe von Akteuren wird dazu wieder nichts
wissen und wieder nichts wissen wollen: Die Wohlfahrts- und die
Sozialverbände.
Die Wohlfahrts- und Sozialverbände haben es in den zurückliegenden
Jahrzehnten nicht nur nicht vermocht, sondern häufig auch bewusst
abgelehnt, gesamtwirtschaftliche, infrastrukturpolitische und
regionalökonomische Kompetenz aufzubauen, die uns in die Lage versetzt
hätte, die Rahmenbedingungen des „Sozialen“ angemessen zu identifizieren
und zu analysieren und daraus Interessenpolitik zu generieren.

Prof. Albrecht Goeschel, Staatliche Universität Rostov, Mitglied
des Präsidiums der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona.

http://das-blaettchen.de/2014/08/mobilitaetsarmut-ghettoisierung-der-ueb...
Klaus D. Skubich, Vorsitzender des SoVD-Kreisverbandes Dortmund und des SoVD Landesverbandes Nordrhein-Westfalen.