Studie „Deutsche Zustände“
Deutschland wird ein bisschen toleranter
Deutschland wird ein bisschen toleranter: Christopher Street
Day in Frankfurt (Archivbild).
Foto: Andreas Arnold
Rechtspopulistische Einstellungen und Vorurteile
gegen Minderheiten gehen leicht zurück, die Gefahr von Rechts wird aber dennoch
nicht geringer. Denn gleichzeitig ist das Protest- und Gewaltpotenzial gestiegen.
Vor dieser Entwicklung warnte am Montag die Forschergruppe um den Soziologen
Wilhelm Heitmeyer, die zehn Jahre lang das Phänomen der Ausgrenzung von
Minderheiten beobachtet hat. Titel der in Berlin vom SPD-Politiker Wolfgang
Thierse vorgestellten Studie: „Deutsche Zustände“.
Das rechtspopulistische Spektrum findet demnach immer weniger ein
Auffangbecken in den großen politischen Parteien. Ein wachsender Teil der
Bürger mit rechten Einstellungen geht nicht mehr zur Wahl. Über 40 Prozent der Rechts orientierten würden heute für ihre Ziele auf die
Straße gehen, im Jahr 2009 waren es knapp 30 Prozent. Die Gewaltbereitschaft
ist in diesem Jahr auf das höchste gemessene Niveau im Zeitraum der Studie
gestiegen. Dem Satz „Manchmal muss ich Gewalt einsetzen, um nicht den Kürzeren
zu ziehen“, stimmten 29 Prozent aller Personen mit einer rechten Einstellung
zu. 2003 war es jeder Vierte, in der Gesamtbevölkerung weniger als jeder
Zehnte.
Hohes Maß an sozialer Kälte
Das Fazit am Ende der Langzeitstudie ist teilweise auch erfreulich: Bei fast
allen Vorurteilen, die bei repräsentativen Telefoninterviews mit 2000
Teilnehmern abgefragt wurden, ist die Zustimmung zurückgegangen. In manchen
Bereichen ist sogar ein drastischer Rückgang zu verzeichnen. So möchte 2011 noch
gut jeder Fünfte die Homo-Ehe wieder verbieten. 2002 waren mehr als 40 Prozent
für ein Verbot von gleichgeschlechtlichen Ehen gewesen. Ähnlich sieht es beim
Frauenbild aus: Der Aussage „Frauen sollten sich wieder mehr auf die Rolle der
Ehefrau und Mutter besinnen“ stimmte vor zehn Jahren fast ein Drittel zu, heute
jeder Fünfte.
Bildergalerie ( 9 Bilder )
Dieser Entwicklung zu mehr kultureller Lockerheit steht allerdings ein hohes
Maß an sozialer Kälte gegenüber. Ressentiments gegen Hartz-IV-Empfänger
und Obdachlose haben deutlich zugenommen. Mehr als die Hälfte der Menschen
glaubt demnach, dass Langzeitarbeitslose gar kein wirkliches Interesse daran
haben, einen Job zu finden. Obdachlose hält knapp jeder Dritte für
„arbeitsscheu“.
Weltweit größte Langzeit-Untersuchung
Die Bielefelder Soziologen untersuchten seit 2002 unter dem
Titel „Deutsche Zustände“ die Entwicklung von Vorurteilen gegen Minderheiten
und schwachen Gruppen.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden
in der Studienreihe ebenso betrachtet wie Vorurteile gegenüber Behinderten,
Arbeitslosen, Sinti und Roma.
Die weltweit größte Langzeituntersuchung, den
Wissenschaftlern zufolge auch die differenzierteste zu dem Thema, ist mit der
in Berlin vorgestellten Studie beendet.
Diese Entwicklung sehen die Forscher besonders in der Verschärfung der
ökonomischen Lebensumstände in den vergangenen zehn Jahren begründet. „Wer sich
selbst von ökonomischen Krisen bedroht fühlt, neigt eher zu Vorurteilen und
Fremdenfeindlichkeit“, sagte Heitmeyer. Die Politik habe zu einer
Ökonomisierung des Menschenbildes geführt – was den sozialen Frieden bedrohe.
Der Wert des Individuums werde immer stärker an dessen Produktivität und
Verwertbarkeit im kapitalistischen System festgemacht. Vorurteile seien oft „ökonomistisch besetzt“, also im unterstellten fehlenden
Nutzen für das Wirtschaftssystem begründet. Der Gedanke von
„Etabliertenvorrechten“, also dass lange im Land lebende Menschen bessergestellt sein sollten, sei weit verbreitet. In einer
Gesellschaft ohne gemeinsame Vision wachse die Attraktivität von
rechtspopulistischen Strömungen, weil diese Geborgenheit und Orientierung
versprächen, so Heitmeyer.
Islamfeindlichkeit ist leicht gesunken
Erstaunlich ist, dass laut Studie die Zahl der Rechtspopulisten in
Deutschland stark zurückgegangen ist. Während die Autoren bei der Ersterhebung
2003 noch fast 14 Prozent der Bürger als Rechtspopulisten einstuften, sind es
nun nur noch 9,2 Prozent. Das könne daran liegen, dass der Rechtspopulismus
heute möglicherweise eine andere Qualität habe als früher und deshalb in der
Langzeitstudie nicht mehr erfasst werde, sagte Mitautor Andreas Zick von der
Uni Bielefeld.
Denn laut Definition der Studie als Rechtspopulist identifiziert zu werden,
mussten die Befragten sechs Kriterien erfüllen, darunter auch Vorurteile gegen
Juden. Moderne Rechtspopulisten wie die Anhänger des muslimfeindlichen Blogs Politically Incorrect, die sich gerne als Beschützer Israels gerieren,
fallen demnach aus der Erhebung heraus. Dabei ist die Islamfeindlichkeit in der
Gesellschaft mit 30 Prozent zwar im Vergleich zum Vorjahr um ein Viertel
gesunken, insgesamt aber immer noch auf einem hohen Niveau. FR 13.12.11
14.12.2011 / Inland / Seite 5Inhalt
35 Prozent der Deutschen wollen Obdachlose in den
Fußgängerzonen nicht mehr sehen Foto: dapd |
Eine Studie zur rechten Zeit. Während sich täglich
deutlicher herausstellt, wie Neonazis über Jahre unbehelligt von Fahndern und
Justiz ihre verächtliche Gesinnung exerzieren konnten, hat jetzt die
Wissenschaft eine dazu passende Erkenntnis geliefert: Die Diskriminierung von
Minderheiten in Deutschland nimmt wieder zu. Fremdenfeindlichkeit,
Rechtspopulismus, Rassismus sowie die Abwertung von Arbeitslosen und Behinderten
haben sich in jüngeren Jahren deutlich verstärkt. So lauten zentrale Ergebnisse
der Langzeituntersuchung »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, die ein
Autorenteam um den Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer am Montag in
Berlin vorgestellt hat.
Die im zehnten und vorerst letzten Band über »Deutsche Zustände«
zusammengetragenen Befunde spiegeln eine bedrückende Entwicklung wider. Die
Autoren erkennen eine wachsende Spaltung einer durch permanente Krisen
verunsicherten Gesellschaft. »Entsicherung, Richtungslosigkeit und
Instabilität« seien zur »neuen Normalität« geworden, die »Nervosität« scheine
über alle sozialen Gruppen hinweg zu steigen. Am Ende des »entsicherten
Jahrzehnts« sehen die Autoren eine »explosive Situation als Dauerzustand«.
Von 2002 an hat Heitmeyers Forscherteam im Jahrestakt repräsentativ 2000
Deutsche zu ihren Einstellungen und Befindlichen befragt, um den Grad des Mit-
oder Gegeneinanders in der Bevölkerung zu messen. War die Verbreitung der
Fremdenfeindlichkeit lange Zeit rückläufig, zeigt sich seit 2009 wieder eine
signifikante Zunahme von rassistischem Gedankengut. So hätten der Aussage »Wenn
Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer
wieder in ihre Heimat zurückschicken« in diesem Jahr 29,3 Prozent der Befragten
zugestimmt, fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu kommt eine wieder stärkere
Stigmatisierung von Erwerblosen und Menschen mit Behinderungen. Über 52 Prozent
meinen etwa, die meisten Hartz-IV-Bezieher drückten
sich vor der Arbeitssuche, 35 Prozent halten es für angebracht, bettelnde
Obdachlose aus den Fußgängerzonen zu entfernen.
Einen Anstieg ermittelten die Forscher auch bei der Gewaltbereitschaft und
-billigung. Die größte Gewaltbereitschaft zeigen mit Abstand Angehörige des rechten
politischen Spektrums. Linke hingegen entsagen der Gewalt am stärksten,
deutlich mehr als an der politischen Mitte Orientierte.
Zu den Ursachen für die erneut zunehmende Diskriminierung von Minderheiten
trifft Heitmeyers Team bemerkenswerte Aussagen. In einem Begleittext zur Studie
ist die Rede von einem »Klassenkampf von oben« und einer »rohen
Bürgerlichkeit«, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben
der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert.
Dieser »Ökonomisierung des Sozialen« entspringe die Sichtweise auf Menschen als
»Nutzlose« und »Ineffiziente«. Beklagt wird eine Mentalität bei
Besserverdienenden, die von der grundgesetzlichen Maxime, wonach Eigentum
verpflichtet, »wenig wissen will und der sozialen Spaltung Vorschub leistet«.
http://www.jungewelt.de/2011/12-14/040.php
14.12.2011 / Antifa / Seite 15Inhalt
Erster Prozeßtag in Leipzig am
6. Dezember nach Mord an Obdachlosen Foto: dpa |
Am 1. Juni dieses Jahres starb der Wohnungslose André K. in
der Leipziger Uniklinik. Fünf Tage zuvor war der 50jährige am Südbahnhof der
sächsischen Kleinstadt Oschatz von fünf Männern im Alter zwischen 16 und 27
Jahren zusammengeschlagen und mit schweren Kopfverletzungen am Tatort liegen
gelassen worden. Erst am nächsten Morgen wurde er gefunden und ins Krankenhaus
gebracht. Am 6. Dezember hat der Prozeß gegen die
Tatverdächtigen vor dem Leipziger Landgericht begonnen. Ein 36jähriger wird
außerdem wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Der Prozeß
wird im Februar fortgesetzt und ist bis zum April 2012 geplant.
»Mindestens 30mal« hätten die Männer auf den Obdachlosen eingetreten, bis
dieser »blutüberströmt am Boden lag«, verlas Oberstaatsanwältin Claudia Laube
die Anklage. Eine zufällige Tat sei der Angriff nicht gewesen, stellte Laube
klar: Man habe sich verabredet, um K. zu suchen »und zu mißhandeln«.
Nach dem Überfall seien die Täter weggelaufen »in der Annahme, ihn tödlich
verletzt zu haben«. K. lebte aber noch, als er am Morgen in der Wartehalle des
Südbahnhofs gefunden wurde. Er starb vier Tage später an einer
Lungenentzündung, die er sich infolge der Verletzungen zuzog. Unklar ist
bisher, warum es zu dem Gewaltausbruch kam und ob eine rechte Gesinnung für den
Angriff auf K. mitverantwortlich war. Dafür spricht zumindest, daß der Tatverdächtige Ronny S. nachweislich Kontakte in
die Neonaziszene unter anderem zur NPD-Jugendorganisation JN hat. Die
Angeklagten hatten zum Prozeßauftakt die Aussage
verweigert. Die wenigsten Fälle von Gewalt gegen Wohnungslose landen vor
Gericht und anschließend in den Opferstatistiken der Polizei. Die Taten werden
von den ermittelnden Behörden meist nicht mit einem ideologischen Motiv in
Zusammenhang gebracht.
Über André K. ist wenig bekannt. Ursprünglich soll er aus Berlin gekommen sein
und in Oschatz nur wenige Bekannte gehabt haben, sagte Andreas Fest vom
Netzwerk »Mein Name ist Mensch«, das den Fall zusammen mit der Opferberatung
RAA betreut. Ein aggressiver Typ sei K. nicht gewesen, heißt es aus seinem
Umfeld. Eher einer, der immer eingesteckt habe. In der Öffentlichkeit wurde der
Fall zunächst als »Milieutat« behandelt, bei der es um Drogen und Alkohol
gegangen sei. Erst durch eine kurze Pressemeldung der Polizei sei das Netzwerk
darauf aufmerksam geworden, schilderte Andreas Fest. Schnell sei klar gewesen, daß es sich um eine gezielte Gewalttat gehandelt habe und daß André K. zum Opfer gemacht wurde, weil er wohnungslos
war.
Statistiken gibt es kaum über die Gewalt gegen Wohnungslose in Deutschland. Sie
bilden die Opfergruppe mit der höchsten Dunkelziffer, erläuterte Marianne Thum
von der RAA in Dresden. Die Beratungsstelle versucht zwar, Zugang zu den Opfern
zu finden. Doch gerade bei Wohnungslosen sei dies wegen häufiger Ortswechsel
schwer, so Thum. Jahrelange Alkoholabhängigkeit könne das Erinnerungsvermögen
der Opfer an die Tat beeinträchtigen und erschwere die Erstattung von Anzeigen zusätzlich.
Außerdem hätten viele Wohnungslose die Erfahrung gemacht, von der Polizei nicht
ernst genommen zu werden. Und sie seien auch psychisch kaum in der Lage, einen Prozeß durchzustehen. Angehörige, die die Verfahren
begleiten, gibt es selten. Im Fall von André K. konnten kurz vor Beginn seine
Kinder ermittelt werden, die jetzt als Nebenkläger auftreten.
Existenzbedrohende Lebensumstände und Alkoholkonsum sind auch unter Menschen,
die auf der Straße hausen, Hintergrund für Angriffe. Doch wenn die Gewalt von
außen kommt, spielt ein neonazistisches Weltbild meist eine Rolle. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. recherchierte von 1989 bis
2010 insgesamt 167 Tötungsdelikte und 366 Körperverletzungen mit schweren
Folgen. Dabei handelt es sich nur um Gewalttaten, bei denen die Täter außerhalb
des »Wohnungslosenmilieus« leben. Sozialdarwinismus ist ein Wort, das oft
fällt, wenn es um Tathintergründe geht. Eine Gesellschaft, in der, wer nichts
leistet, auch nichts wert ist, macht diejenigen am Rand der Gesellschaft zum
Sündenbock. Die Täter kommen, wie auch die Verdächtigen im Leipziger Prozeß, oft selbst aus sozial benachteiligten und
bildungsfernen Schichten. Nach unten tritt, wer selbst getreten wird.
Da Wohnungslose über keinerlei gesellschaftliche Lobby verfügen, können sich
die Täter durchaus Chancen errechnen, daß ihre
Angriffe folgenlos bleiben. Auch in den Medien erhält das Thema kaum
Aufmerksamkeit. Im Fall des ermordeten André K. habe es zwei Kurzmeldungen in
der Lokalzeitung gegeben, erinnerte sich Andreas Fest. Die Oschatzer
Stadtverwaltung will zu einem möglichen neonazistischen Tatmotiv keine Stellung
beziehen. Hintergründe des Mordes zu ermitteln und den Fall zu bewerten sei
Sache der Staatsanwaltschaft.
http://www.jungewelt.de/2011/12-14/006.php