Mittelschicht hat Angst vor Armut

Immer mehr Deutsche müssen mit immer weniger Geld auskommen - die Mittelschicht schrumpft, die Unterschicht wächst. Und viele, denen es noch „gut“ geht, sehen die Zukunft pessimistisch. Experten warnen: Diese Spaltung unserer Gesellschaft gefährdet deren Stabilität.

VON DIETER DORMANN


Wickrath/Kleve/Düsseldorf Simone Liffers ist 47Jahre alt und ledig. 25Jahre hat sie als Erzieherin gearbeitet. Sie liebt ihren Beruf so sehr, dass sie sich 1996 entschloss, Sozialpädagogik zu studieren. Zur Finanzierung des Studiums arbeitete sie halbtags, nahm einen Kredit auf. Um in Ruhe nach einer Stelle als Sozialpädagogin zu suchen, arbeitete sie zunächst bei einer Textilmaschinenfirma in Mönchengladbach. Von den dort verdienten 1400Euro netto konnte sie „gut“ leben. Nach der Pleite der Firma bekommt Simone Liffers in einer Transfergesellschaft nur noch 800Euro.


Hans-Günter Vellmann ist 57Jahre und verheiratet. 39Jahre hat er in einem Lebensmittelunternehmen in Kleve gearbeitet, zuletzt rund 4000Mark netto verdient. Als das Werk 2000 ein Investor übernahm, ging es bergab: 28Prozent Lohnkürzung, kein Weihnachtsgeld. 2005 machte die Firma dicht. Der Elektriker fand einen neuen Job, doch er verdiente nur 15Euro pro Stunde und musste täglich 100Kilometer pendeln. Bevor dem 57-Jährigen im Oktober2007 gekündigt wurde, verletzte er sich bei einem Sturz schwer. Seither lebt er von 52Euro Krankengeld pro Tag.


Christian Thimm ist 43Jahre alt, verheiratet mit Sandra (35) und Vater von Maximilian (18Monate). Der Düsseldorfer verdient als Mess- und Regeltechniker 1800Euro netto. Bis zur Geburt des Kindes erhöhte seine Frau als Warenbuchhalterin das Einkommen um 1200Euro netto. Seit das Kind da ist, und sie nicht mehr arbeitet, bekommt Sandra nur noch 300Euro Erziehungsgeld und 150Euro Kindergeld.


Simone Liffers, Hans-Günter Vellmann und Christian Thimm sind drei von fünf Millionen Deutschen, die seit 2000 in die Unterschicht abgerutscht sind. In den vergangenen sieben Jahren ist laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) der Teil der Bevölkerung, der über ein Einkommen in der Nähe des statistischen Mittels verfügt (16000Euro Haushaltsnettoeinkommen jährlich pro Person), von 62,3 auf 54,1Prozent geschrumpft. Eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung bestätigt das Schrumpfen der Mittelschicht, die jahrzehntelang stabil war. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 2005 sind die realen Nettolöhne je Beschäftigtem um 3,5Prozent gesunken. „Es ist ein einzigartiges Ereignis in der deutschen Wirtschaftsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, dass wir in einem Aufschwung eine sinkende Kaufkraft der privaten Haushalte haben“, sagt Professor Gustav Horn.


Simone Liffers, Hans-Günter Vellmann und Christian Thimm erleben Tag für Tag, was das bedeutet. Sie müssen mit jedem Cent rechnen. Mal ins Kino gehen, eine Reise machen, Geld für ein Hobby ausgeben, Auto fahren - „das ist nicht drin“, sagen sie. Was für die drei traurige Realität ist, macht immer mehr Menschen, die noch „gut verdienen“, Angst. Laut DIW schauten in den 90er-Jahren 30Prozent sorgenfrei in die Zukunft. Nun beurteilen sie nur 23Prozent optimistisch.


Nicht nur Statistiken belegen den Trend. Auch Gerd Engler von der Caritas in Kleve spürt in Beratungsgesprächen immer öfter: Die Furcht vor dem Abstieg wächst. „Auf die Frage, wie sie die Zukunft in finanzieller Hinsicht sehen, lautet die Antwort durchweg: ’schlecht’“, berichtet er. Ergebnisse der DIW-Studie belegen zudem: Wer einmal in der Unterschicht gelandet ist, schafft seltener als früher die Rückkehr. 66Prozent der Unterschicht sind auch vier Jahre später ganz unten. Vor Jahren lag die „Beharrungsquote“ nur bei 54Prozent.


Simone Liffers, Hans-Günter Vellmann und Christian Thimm tun viel, um wieder „hochzukommen“. Christian Thimm hat zusätzlich zu seiner Vollzeitstelle einen 400-Euro-Job angenommen. Hans-Günter Vellmann hat in mehreren Firmen nach einer Beschäftigungsmöglichkeit gefragt. Simone Liffers sagt: „Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich habe gelernt, allein zurechtzukommen.“ Zugleich empfindet die Sozialpädagogin ihre Lage jedoch als „eine Form von Missachtung“ all ihres Engagements, ihrer Investitionen, ihrer Weiterbildung. Sie möchte nichts geschenkt. Sie wünscht sich nur angemessenen Lohn für gute Arbeit, die sie leisten will. Familienvater Christian Thimm fühlt sich ebenso von der Gesellschaft „im Stich gelassen“. Seine Frau klagt: „Arme werden immer ärmer, Reiche immer reicher - das ist doch eine verkehrte Welt in Deutschland.“


Das Schrumpfen der Mittelschicht kann dramatische Folgen haben. Professor Gustav Horn meint: „Mit der sozialen Spaltung in Unter- und Oberschicht geht die Stabilität der Gesellschaft verloren.“ Eine politische Radikalisierung sei möglich. „Das Protestpotential wird zunehmen.“


„Auf die Straße gehen“ will Christian Thimm nicht - „nicht heute, nicht morgen“. Aber der Düsseldorfer kann sich vorstellen, dass sich die Wut der fünf Millionen, die in die Unterschicht abgerutscht sind, einmal entlädt. „Vielleicht, wenn wir gar nicht mehr anders können.“

 

- /DIETER DORMANN

 

Ursachen


Die Experten nennen neben dem Sinken der realen Nettolöhne noch zwei weitere wichtige Ursachen für das Schrumpfen der Mittelschicht in den letzten sieben Jahren:


Arbeitslosigkeit Die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, ist den letzten Jahren höher als je zuvor in Deutschland. Zudem ist dauert die Arbeitslosigkeit länger, und die Höhe des Einkommens von Arbeitslosen hat mit dem Arbeitslosengeld II massiv abgenommen.


Arbeitsmarkt-Flexibilisierung Immer weniger Menschen finden derzeit eine Vollzeitbeschäftigung, immer mehr müssen statt dessen als Teilzeit- oder geringfügig Beschäftigte ihren Unterhalt verdienen.

 

-


Quelle:
Verlag: Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.68
Datum: Donnerstag, den 20. März 2008
Seite: Nr.3