Traumziel der Reformer 11.12.2013 / Thema / Seite 10Inhalt
Das bedingungslose Grundeinkommen – Neuanfang oder
endgültiger Niedergang des Sozialstaates?
Problematische Forderungen: Durch die Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens würde, da der Staat für die Reproduktion der
Arbeiter aufkäme, der Niedriglohnsektor massiv ausgebaut (»Umfairteilen«-Demonstration in B Foto: Florian Boillot |
Ein soziales Kardinalproblem im vereinten Deutschland ist
die im Gefolge der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise weiter
zunehmende Armut. Mittels eines (bedingungslosen) Grundeinkommens, das auch als
»Bürger-« bzw. »Existenzgeld«, als »Sozialdividende« oder als »negative
Einkommensteuer« firmiert und Inländern ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden
soll, hoffen vor allem unter dem Kontrolldruck ihres Jobcenters stehende
Bezieher von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld, Sozialhilfeempfänger sowie
ihre organisatorischen Netzwerke, die Armut und die Demütigungen durch einen
als (zu) bürokratisch empfundenen Sozialstaat überwinden zu können. Hier soll
erörtert werden, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen den daran geknüpften
hohen Erwartungen gerecht wird. Entscheidend für Wirkung und Bewertung eines
Grundeinkommensmodells sind die Höhe des zur Verfügung gestellten Betrags
(unter/über Hartz IV bzw. Sozialhilfe?), die Art
seiner Refinanzierung (Erhebung/Erhöhung welcher Steuern und Streichung
anderer/welcher Sozialleistungen?) sowie schließlich die Rahmenbedingungen,
unter denen ein solches Grundeinkommen gezahlt wird (Empfängerkreis,
Anspruchsvoraussetzungen, Berechnungsmodalitäten usw.).
Die sozialphilosophische Idee, dadurch Armut zu verhindern
und Bürger vom Arbeitszwang zu befreien, daß alle
Gesellschaftsmitglieder vom Staat ein gleich hohes, ihre materielle Existenz
auf einem Mindestniveau sicherndes Grundeinkommen erhalten, ist uralt. Sie geht
auf das 1516 erschienene Buch »Utopia« von Thomas Morus zurück und hat sich bis
heute das Flair des Paradiesischen bewahrt. Das bedingungslose Grundeinkommen
gewinnt seine Faszination durch die Verbindung der Gerechtigkeitsvorstellungen
eines utopischen Sozialismus, bürgerlicher Gleichheitsideale und von
Neoliberalen gepriesener Funktionselemente der Marktökonomie. Grundeinkommensmodelle
harmonieren mit dem neoliberalen Zeitgeist, weil sie die (Markt-)Freiheit des
(Wirtschafts-)Bürgers nicht (zer-)stören, vielmehr auf »Selbstverantwortung«,
»Eigenvorsorge« und »Privatinitiative« abheben sowie die tradierten Mechanismen
der kollektiven Absicherung von Lebensrisiken in Frage stellen, ohne auch nur
ansatzweise jenen Eindruck sozialer Kälte zu hinterlassen, der etablierter
Politik mittlerweile anhaftet.
Das mit Abstand medienwirksamste Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens
stammt von Götz W. Werner, dem anthroposophisch orientierten Gründer der
DM-Drogeriemarktkette. Er will »Deutschland zur Steueroase und zum
Arbeitsparadies« machen, gleichzeitig jedoch am liebsten auch sämtliche
Gesellschaftsmitglieder zu Unternehmern. Er fordert den »Umbau einer
Arbeitnehmergesellschaft mit hohem Arbeitslosenanteil hin zu einer Gemeinschaft
von Freiberuflern mit bedingungslosem Grundeinkommen«, der ohne eine »radikale
Steuerreform« nicht möglich sei.
Für Werner bildet das Grundeinkommen offenbar nur den Hebel zur Durchsetzung
einer weiteren drastischen Steuerentlastung von Unternehmen. Unter dem Motto
»Ausgaben- statt Einkommensteuer!« begründet er, warum
seiner Meinung nach ausschließlich eine reine Konsumsteuer sozial gerecht
ausgestaltet werden kann und zeitgemäß ist: »Die Mehrwertsteuer hat (…) als
einzige Steuer einen gesamt-, ja weltwirtschaftlichen Charakter. Man könnte
sagen, daß sie die adäquate Steuer für eine
hochgradig arbeitsteilige Gesellschaft und eine globalisierte Welt ist.« So nützlich die Mehrwertsteuer besonders für einen
(Handels-)Unternehmer sein mag, der sie einfach auf die Preise umlegt und als
durchlaufenden Posten auf seine Kunden abwälzt, so wenig berücksichtigt sie die
unterschiedliche finanzielle Leistungs- bzw. Zahlungsfähigkeit der einzelnen
Gesellschaftsmitglieder. Selbst wenn man die Steuersätze stärker
ausdifferenziert, also z.B. Grundnahrungsmittel niedrig oder gar nicht, andere
Güter höher und Luxusgüter extrem hoch besteuert, wird aus einer Konsumsteuer
kein sozial gerechtes Steuerungsinstrument.
Der Berliner Hochschulrektor Wolfgang Engler plädiert für eine
»Sozialdividende« und schlägt zum Zweck ihrer Finanzierung ebenfalls indirekte
Steuern vor. Über die Mehrwertsteuer schwärmt er unter Berufung auf den US-amerikanischen
Wirtschaftswissenschaftler Lester Thurow: »Sie wird auf alle Waren erhoben,
auch auf die importierten, und zieht daher (anders als bei Abgaben und direkten
Steuern) keine Wettbewerbsnachteile für die je einheimische Volkswirtschaft
nach sich.« Folgt man weniger der Standortlogik als
sozialen Gerechtigkeitskriterien, kommt die Mehrwertsteuer als
Finanzierungsquelle kaum in Betracht, weil sie kinderreiche Familien besonders
hart trifft, die in Relation zu ihrem niedrigen Einkommen einen relativ hohen
Konsumgüterbedarf haben, während ihr Wohlhabende schon wegen häufigerer
Aufenthalte in Ländern ohne Grundeinkommen und vergleichbar hohe Steuersätze
leichter ausweichen könnten. Die (progressive) Einkommensteuer und eine
Vermögensteuer sind sozial gerechter als die Mehrwertsteuer, weil sie vor allem
Besserverdienende, Kapitaleigentümer und Begüterte treffen, während
Geringverdiener und Sozialleistungsempfänger unabhängig von ihrem
Konsumgüterbedarf verschont bleiben.
Ähnlich wie Engler beschwört Werner das Grundeinkommen zwar sehr pathetisch als
»Bürgerrecht«, versteht darunter aber letztlich nur einen »bar ausgezahlten
Steuerfreibetrag«, der nötig ist, weil in seinem Modell alle direkten Steuern
entfallen, was nicht die Armen, sondern die Vermögenden – besonders Milliardäre
wie Werner – entlasten würde. Wenn man das Grundeinkommen als bloße
»Rücküberweisung des Grundfreibetrags« interpretiert, wie dies Werner tut,
degeneriert es zum Abfallprodukt einer bestimmten steuerpolitischen
Reformkonzeption, die eine Restauration früherer Gesellschaftszustände
darstellen würde. Gleichzeitig müßten normale
Beschäftigte und Menschen, die auf das Grundeinkommen zur Existenzsicherung
angewiesen sind, beim Werner-Modell mit einer drastisch erhöhten Mehrwertsteuer
rechnen und wahrscheinlich dramatische Steigerungen der Lebenshaltungskosten
verkraften.
Ein Märchen über das bedingungslose Grundeinkommen:
Anthroposoph und Unternehmer Götz W. Werner will mit seinem Modell
»Deutschland zur Steueroase und zum Arbeitsparadies« machen (Bei Schülerinnen
der Schiller-Schule in Stu Foto: Norbert Försterling dpa/lsw |
Der frühere thüringische
Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) bezeichnet sein Modell, das er im Sommer
2006 vorgelegt hat, als »Solidarisches Bürgergeld«. Denn es sei gerecht, die
Existenz sämtlicher Staatsbürger bedingungslos zu garantieren und der
Massenarbeitslosigkeit durch Entkopplung von Arbeitsmarkt und sozialer
Sicherung entgegenzuwirken. Nach diesem Konzept würde jedes Kind 300 Euro, jede
und jeder Volljährige 600 Euro im Monat und Erwachsene ab dem 67. Lebensjahr
außerdem eine Zusatzrente bis höchstens 600 Euro je nach Art ihrer
Erwerbstätigkeit erhalten. Ergänzend gäbe es eine Gutschrift von 200 Euro als
Gesundheits- und Pflegeprämie. Behinderte und Bürger in einer besonderen
Lebenslage, etwa Alleinerziehende, könnten einen Bürgergeldzuschlag beantragen,
der sich nach dem individuellen Bedarf richtet. Alle übrigen Sozialleistungen,
beispielsweise Wohn-, Kinder- und Elterngeld, würden genauso entfallen wie
sämtliche Sozialversicherungsbeiträge; die Unternehmer entrichteten statt
dessen für ihre Beschäftigten eine Lohnsummensteuer zwischen zehn und zwölf
Prozent. Finanziert werden soll das Bürgergeld überdies durch eine Erhöhung der
Einkommensteuer auf 50 Prozent, die mit dem Bürgergeld verrechnet wird. Ab
einer bestimmten Einkommenshöhe (1600 Euro) halbiert sich das Bürgergeld,
während die Bezieher höherer Einkommen umgekehrt nur 25 Prozent Steuern
bezahlen.
Michael Opielka, Leiter des Jenaer Instituts für
Zukunftsstudien und Technologiebewertung, sowie sein Koautor, der
Grünen-Politiker Wolfgang Strengmann-Kuhn, würdigen
das Konzept des »Solidarischen Bürgergeldes« als »Beitrag für eine konkrete und
realitätsnahe Reform des deutschen Sozialstaats«, die nur überparteilich bzw.
parteienübergreifend erfolgreich sein kann. Solidarisch kann man das Modell
allerdings kaum nennen, liegen die dabei vorgesehenen Beträge doch »deutlich
unter der von der EU festgelegten Armutsgrenze«, wie beide Autoren in ihrem
Buch »Das solidarische Bürgergeld« konstatieren. Gleichzeitig würden die
bestehenden Sozialversicherungen geschleift, die Unternehmen aus der
paritätischen Beitragspflicht entlassen und durch die geplante »Flat tax« (Einheitssteuer) mit einem Steuersatz von 25
Prozent à la Paul Kirchhof vor allem Besserverdienende und Vermögende
entlastet.
Das von Thomas Straubhaar geleitete Hamburgische
Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) geht in seiner Studie von 2008 »Bedingungsloses
Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld – mehr als sozialutopische
Konzepte« nicht nur davon aus, daß »alle steuer- und
abgabenfinanzierten Sozialleistungen abgeschafft« werden, sondern schlägt
darüber hinaus vor, »alle sozialpolitisch motivierten Regulierungen des
Arbeitsmarktes« zu streichen: »Es gibt keinen Schutz gegen Kündigungen mehr,
dafür aber betrieblich zu vereinbarende Abfindungsregeln. Es gibt keinen
Flächentarifvertrag mehr und auch keine Mindestlöhne, sondern von Betrieb zu
Betrieb frei verhandelbare Löhne. Es gibt keine Sozialklauseln mehr. Die heute
zu leistenden Abgaben an die Sozialversicherungen entfallen vollständig.« Was vielen Erwerbslosen irrigerweise als »Schlaraffenland
ohne Arbeitszwang« erscheint, wäre mithin ein Paradies für Unternehmer, in dem
Beschäftigte weniger Rechte als bisher und Gewerkschaften keine (Gegen-)Macht
mehr hätten.
Während sich die wirtschaftsnahen und konservativen
Protagonisten des Grundeinkommens von dessen Einführung eine Verbilligung des
»Faktors Arbeit« und eine größere Bereitschaft der Transferleistungsbezieher
zur Arbeitsaufnahme versprechen, sehen linke Befürworter darin umgekehrt eine
Möglichkeit, soziale Sicherheit ohne Arbeit zu erlangen. Um ein bedingungsloses
Grundeinkommen handelt es sich freilich nicht, wenn daran wie beim Soziologen
Ulrich Beck die Verpflichtung zur Leistung von – noch dazu nur »belohnt«, aber
»nicht entlohnt« zu verrichtender – »Bürgerarbeit« gekoppelt ist. Dies gilt
prinzipiell auch für Wolfgang Englers »Sozialdividende«, die in einen neuen
Gesellschaftsvertrag einzubetten sei, der zwar die Freiheit von jeglicher
Arbeitspflicht beinhaltet jedoch an die Bedingung »glaubwürdiger und
beglaubigter Bildungsanstrengungen« gebunden werden soll.
Während der 1990er Jahre machte die organisierte Erwerbslosenbewegung das
Existenzgeld zu ihrer Schlüsselforderung, ohne daß
öffentliche Resonanz und dafür Rückhalt in der Bevölkerung wuchsen. Das Konzept
vom Existenzgeld gründet wie das vom garantierten Mindesteinkommen generell auf
der Wunschvorstellung seiner Befürworter, die soziale Sicherung von der
Erwerbsarbeit entkoppeln zu können. Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluß, denn immer basiert die erstere auf der
letzteren. Allenfalls können Teile der Bevölkerung leben, ohne zu arbeiten,
aber nur so lange, wie das andere (für sie) tun und den erzeugten
gesellschaftlichen Reichtum mit ihnen teilen. Von der Erwerbsarbeit trennen
lassen sich bloß der individuelle Rechtsanspruch auf Transferleistungen, den
jemand geltend macht, und der Zuteilungsmechanismus, nach dem die Zahlungen
erfolgen.
Durch ein bedingungsloses Grundeinkommen würde das im Gegenwartskapitalismus
ohnehin nur deklarierte »Recht auf Arbeit« seinen Wert völlig verlieren. Als
ein Kombilohn für alle könnte es deshalb wirken, weil der Staat für die
Reproduktion der Ware Arbeitskraft aufkäme und der Unternehmer entsprechend
weniger dafür aufwenden müßte. Der ausufernde
Niedriglohnsektor, heute das Haupteinfallstor für Erwerbs- und spätere
Altersarmut in Deutschland, würde nicht eingedämmt wie durch einen allgemeinen
gesetzlichen Mindestlohn in angemessener Höhe, sondern womöglich noch massiver
durch den Staat subventioniert.
Auf den ersten Blick hat ein garantiertes Mindesteinkommen für alle
»Weltverbesserer« im positiven Wortsinn zweifellos etwas Bestechendes: Statt
wie im bestehenden Wohlfahrtsstaat diejenigen Menschen durch eine spezielle
Transferleistung (Alg II, Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe) aufzufangen, die weder über ein
ausreichendes Erwerbseinkommen noch über Leistungsansprüche aus dem
Versicherungssystem verfügen, sollen sämtliche (Wohn-)Bürger ohne Ansehen der
Person, »Arbeitszwang« und besonderen Nachweis in den Genuß
einer finanziellen Zuwendung gelangen, die zur Sicherung ihrer Existenz
ausreicht. An die Stelle eines gleichermaßen komplexen wie komplizierten
Wohlfahrtsstaates, der vielen Menschen, sogar seinen größten Nutznießern,
undurchschaubar erscheint und bloß als »sozialer Reparaturbetrieb«
funktioniert, an die Stelle individuell geltend zu machender Ansprüche und in
aller Regel entwürdigender Kontrollmechanismen durch Behörden würde ein
sozialpolitischer Universaltransfer treten, der keiner Kontrollbürokratie mit
ihren ausufernden Sanktionsmechanismen bedarf.
Über das bedingungslose Grundeinkommen wird suggeriert, es
sei ein »gesellschaftspolitischer Befreiungsschlag«. Nach permanenter
»Flickschusterei« am Sozialstaat, die über Jahrzehnte hinweg nur immer neue
Probleme und nicht enden wollende Streitigkeiten in der Öffentlichkeit mit sich
gebracht hat, erscheint der angestrebte Systemwechsel vielen Menschen geradezu
als Erlösung aus dem Jammertal der Konflikte, die ihre Harmoniesucht
herbeisehnt. Endlich könnten sie hoffen, vom bisherigen Elend der Armen, die um
Almosen betteln, und dem der ständigen Reformen, die – wie Hartz
IV – weitere Verschlechterungen bewirkt haben, befreit zu werden. Für die
Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens besteht ein weiterer Fortschritt
darin, daß es weder an die (für den Bismarckschen
Sozialversicherungsstaat konstitutive) Arbeitspflicht noch an eine diskriminierend
wirkende Bedürftigkeitsprüfung gebunden wäre.
Sieht man genauer hin, fallen demgegenüber jedoch zahlreiche Nachteile ins
Auge: Beim allgemeinen Grundeinkommen handelt es sich um eine alternative
Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als
Jahrhundertwerk gefeierten und in vielen Teilen der Welt nachgeahmten
Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören
würde. Denn dieser gründet zum Teil seit Fürst Otto von Bismarck auf
Sozialversicherungen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen, -situationen
und -phasen auftretende Standardrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität,
Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichern, sofern der
versicherte Beschäftigte und der Unternehmer vorher entsprechende Beiträge
gezahlt haben. Nur wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei
Arbeitslosigkeit erschöpft ist, muß man auf
steuerfinanzierte Leistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe) zurückgreifen,
die bedarfsabhängig – d.h. nur nach einer Prüfung der Einkommensverhältnisse,
vorrangigen Unterhaltspflichten und Vermögensbestände – gezahlt werden.
Wenn (fast) alle bisherigen, zum Teil nach Bedürftigkeit gewährten
Transferleistungen zu einem Grundeinkommen verschmolzen würden, wäre das
Traumziel marktradikaler Reformer, die Sozialversicherungen zu zerschlagen und
einen neoliberalen »Minimalstaat« zu schaffen, ganz nebenbei erreicht, was sich
noch dazu als Wohltat für die Bedürftigen hinstellen ließe. Gleichzeitig böte
die Refinanzierung des Grundeinkommens über indirekte, d.h. Konsumsteuern einen
Hebel, um die Unternehmenssteuern weiter zu senken und am Ende ganz
abzuschaffen.
Verfechter des Grundeinkommens geraten zwangsläufig in ein Dilemma, denn sie
müssen sich zwischen folgenden zwei Möglichkeiten entscheiden:
– Entweder erhalten jede Bürgerin und jeder Bürger das Grundeinkommen,
unabhängig von den jeweiligen Einkommens- und Vermögensverhältnissen. In diesem
Fall müßten riesige Finanzmassen bewegt werden, die
das Volumen des heutigen Bundeshaushaltes (ca. 300 Milliarden Euro) um ein
Mehrfaches übersteigen und die Verwirklichung des bedingungslosen
Grundeinkommens per se ins Reich der Utopie verweisen. Außerdem stellt sich
unter Gerechtigkeitsaspekten die Frage, warum Multimillionäre und Milliardäre
vom Staat monatlich ein von ihnen als bescheiden empfundenes Zubrot erhalten
sollten, während Millionen Bürger mehr als den für sämtliche Empfänger
einheitlichen Geldbetrag viel nötiger hätten.
– Oder wohlhabende und reiche Bürger bekommen das Grundeinkommen nicht bzw. im
Rahmen der Steuerfestsetzung wieder abgezogen. Dann ist es weder allgemein und
bedingungslos, noch entfällt die Bedarfsprüfung, denn es müßte
ja in jedem Einzelfall herausgefunden werden, ob die Anspruchsvoraussetzungen
nicht durch (verdeckte) anderweitige Einkünfte verwirkt sind. Damit wären
Arbeitslose und Arme jedoch einem ähnlichen Kontrolldruck wie gegenwärtig
ausgesetzt, auch wenn er vom Finanzamt statt von einem Jobcenter oder einer
kommunalen Sozialbehörde ausgeübt würde. Ihn zu beseitigen bildet jedoch gerade
ein Hauptargument für das Grundeinkommen.
Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen sinnvoll, finanzierbar und realisierbar
ist, erscheint mehr als fraglich. Dabei geht es gar nicht mal in erster Linie
um die großen Finanzmassen, die bewegt werden müßten,
um es einführen zu können, sondern um Gerechtigkeitsdefizite im Rahmen des
Steuersystems. Hinzu kommt, daß ein von der
Erwerbsarbeit abgekoppeltes Grundeinkommen den Druck auf Politik und
Verwaltung, die Massenarbeitslosigkeit konsequent zu bekämpfen, stark
herabsetzen würde. Selbst wenn die Erwerbslosen damit materiell besser als
bisher abgesichert wären, bliebe das Problem ihrer sozialen Desintegration
bestehen. Denn in einer Arbeitsgesellschaft resultieren der Lebenssinn, der
soziale Status und das Selbstwertgefühl der Menschen aus der Erwerbsarbeit.
Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft
an der Universität zu Köln. Soeben ist die fünfte, aktualisierte Auflage seines
Standardwerks »Krise und Zukunft des Sozialstaates« bei Springer VS (Verlag für
Sozialwissenschaften) erschienen.
http://www.jungewelt.de/2013/12-11/012.php