Wenn der Sozial-Ermittler klingelt
Die große Koalition will den Missbrauch der Sozialleistungen bremsen.
Bislang setzen aber längst nicht alle Städte Kontrolleure ein, um den Abkassierern auf die Schliche zu kommen. Wie sieht der
Alltag der Hartz-IV-Ermittler aus? Wir haben Rolf A.,
Fahnder aus Neuss, getroffen.
VON GERHARD VOOGT
Neuss Rolf A. sieht müde aus. Der 48-Jährige ist schon seit sechs Uhr morgens
im Dienst. „Wir müssen früh aufstehen, um den Dingen auf den Grund gehen zu
können“, sagt der 48-Jährige. „Rhein-Kreis Neuss. Ermittlungsdienst“, steht auf
seiner Visitenkarte.
Rolf A. will sich bei seiner Arbeit nicht über die Schulter blicken lassen. Das
Treffen findet im Kreishaus statt, im Büro seines Chefs, Siegfried Henkel. Der
legt die Bedingungen fest, unter denen das Gespräch stattfinden kann. „Keine
Namen, keine Fotos. Es hat schon Übergriffe auf unsere Leute gegeben.“
Rolf A. nickt. „Wir sind unbeliebter als die Polizei“, sagt der Mann mit den
kurzen, grauen Haaren. „Wenn wir kommen, geht es den Leuten oft ans Geld.“
Zumindest dann, wenn falsche Angaben gemacht wurden. Der Job von Rolf A. ist
es, Hartz-IV-Empfänger zu kontrollieren.
„Nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind die Ausgaben
für Bedürftige explosionsartig angestiegen“, sagt Amtsleiter Henkel. In den
ersten zehn Monaten dieses Jahres beträgt die Mehrbelastung für den Kreis Neuss
bereits 12,5 Millionen Euro.
Rolf A. ist ein versierter Ermittler. „Viele Antragsteller machen keinen Hehl
daraus, dass sie den Staat betrügen“, sagt der Mann in der Jeans-Hose. „Die
meisten Hinweise bekommen wir von Nachbarn.“ Rolf A. schildert einen typischen
Fall.
Sabine E. (33) hat zwei Kinder, die sechs und drei Jahre alt sind. Sie ist
arbeitslos, wohnt in einer 90-Quadratmeter-Wohnung im Neusser
Süden. Sabine E. erhält insgesamt 1479,73 Euro an Leistungen. Der
Ermittlungsdienst vermutet, dass das erheblich zu viel ist. Denn an der Haustür
steht noch ein anderer Name: Sven W.
Sabine E. hat nie verschwiegen, dass sie mit Sven W. zusammen wohnt. Sie hat
angegeben, mit ihm in einer Wohngemeinschaft zu leben. Wären sie ein Paar,
müsste Sven W., der über ein festes eigenes Einkommen verfügt, für seine
Freundin aufkommen.
Ist Sabine E. eine Sozialbetrügerin? Ist Sven W. ihr Partner, oder bilden die
beiden tatsächlich nur eine WG? Das herauszufinden, ist der Job der Ermittler.
Rolf A. lässt sich so schnell nicht hinters Licht führen. Diesmal ist der Fall
schnell geklärt. Ein Blick ins Schafzimmer offenbart: Sabine E. und Sven W.
schlafen in einem Bett.
Sabine E. wird das zu Unrecht erhaltene Geld zurückzahlen müssen. Zusätzlich
wird sie wegen Leistungsmissbrauchs angezeigt. In diesem Jahr hat der
Ermittlungsdienst in Neuss bereits 220 Verdachtsfälle zu bearbeiten. „In fast
jedem vierten Fall werden wir fündig“, sagt Rolf A.
Der Kreis Neuss gilt als Vorzeige-Kommune bei der Aufdeckung von
Leistungsmissbrauch. Die Ermittler arbeiten oft wie Privatdetektive. Das zeigt
auch ein Fall aus Wesel.
Durch einen anonymen Brief wurden die Behörden auf Rolf Sch. aufmerksam
gemacht. Der erhält Arbeitslosengeld II, ist in Moers gemeldet. In dem Brief
heißt es, Sch. habe längst Arbeit in einer ImbissStube
in Oberhausen gefunden.
Der Ermittler legt sich vor dem Imbiss auf die Lauer. Tatsächlich erscheint
Sch. gegen elf Uhr und macht die Kochstellen fertig. Der Fahnder betritt die
Grillstube, bestellt etwas zu Essen, beginnt ein Gespräch. Der angebliche
Arbeitslose ahnt nicht, mit wem er redet, als er verrät, seit sechs Monaten in
dem Imbiss zu arbeiten. Vor der Tür parkt der Audi A 6, mit dem er gekommen
ist. Weitere Nachforschungen ergeben, dass die Wohnung in Moers leer steht. Er
hatte sich nicht umgemeldet, um dort weiter Geld kassieren zu können.
Die Bunderegierung hat im Haushaltsansatz für dieses
Jahr 14,6 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II vorgesehen - benötigt
werden aber 25,6 Milliarden. Wo die Fahnder ermitteln, tragen sie zu großen
Einsparungen bei. Im Koalitionsvertrag haben CDU und SPD vereinbart, das bei Hartz IV vier Milliarden Euro eingespart werden sollen. Um so erstaunlicher, dass viele Städte noch auf den Einsatz
der Fahnder verzichten - in Duisburg (36000 Bedarfsgemeinschaften) gibt es
keinen Ermittlungsdienst.
Aber nicht nur der Missbrauch strapaziert die Staatskasse. Reiner Lipka, Geschäftsführer des Integrations-Centers für Arbeit
in Gelsenkirchen, glaubt, dass der Zuwachs der Fallzahlen mit der
Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialämtern zu tun hat. „Die Hemmschwelle, in
die Agentur zu gehen, ist gering. Es kommen viele Leute, die bisher noch nie
auf dem Sozialamt gewesen sind.“
Zum Beispiel zahllose Abiturienten. Die Schulabgänger, die bislang vielfach
kostenlos bei ihren Eltern wohnen, haben durch Hartz
IV Anspruch darauf, dass ihnen Stütze und die Miete für die Unterkunft bezahlt
wird - selbst, wenn diese den Eltern gehört. „Das ist übrigens kein
Missbrauch“, sagt der Neusser Amtsleiter Henkel.
„Sondern die Anwendung jetzt geltender Regeln. Es war eine Unterlassungssünde,
dass Hartz IV solche Ansprüche überhaupt möglich gemacht
hat.“
- /VON GERHARD VOOGT
Quelle:
Verlag: Rheinisch-Bergische Druckerei- und
Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.271
Datum: Dienstag, den 22. November 2005
Seite: Nr.3
Kein leichter Job
Interview ARGE-Chef Klaus Müller
Klaus Müller (47) ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung
(ARGE) in Mönchengladbach.
Durch die Großreform Hartz IV sind Arbeitslosen- und
Sozialhilfe zusammengelegt worden. Für die Fallbearbeitung ist jetzt die neu
gegründete ARGE zuständig. Wie läuft die Zusammenarbeit?
Müller Wir haben 80 Mitarbeiter, die früher bei der Agentur für Arbeit
beschäftigt waren und 120 aus dem Bereich des ehemaligen Sozialamts. Am 1. Juli
2005 sind wir gestartet. Vieles muss sich noch einspielen, in den
Rahmenbedingungen gibt es strukturelle Defizite.
Zum Beispiel?
Müller Die Raumfragen sind noch nicht geklärt. Für die Bereiche Controlling,
Finanzen, Personal und Beschaffung haben wir keine eigenen Mitarbeiter. Trotz
der guten Mitwirkung der Kollegen ergeben sich Schnittstellenprobleme.
Wie viele Mitarbeiter hat der Ermittlungsdienst in Mönchengladbach?
Müller Wir haben derzeit zwei erfahrene Mitarbeiter aus dem früheren Sozialamt,
die für rund 17500 Bedarfsgemeinschaften zuständig sind. Sie haben keinen
leichten Job, sind oft Anfeindungen ausgesetzt.
Sind das nicht viel zu wenig?
Müller Da müssen wir weiter Erfahrung sammeln. Zudem arbeiten wir bei der
Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung mit dem Zoll zusammen.
Mit was für Fällen haben die Ermittler am häufigsten zu tun?
Müller Sehr oft geht es darum, festzustellen, ob Leute, die in einer Wohnung
zusammen leben, eine eheähnliche Gemeinschaft bilden oder nicht.
Wann ist ein Paar eine eheähnliche Gemeinschaft?
Müller Wenn sie das Bett und das Bad teilen, wenn es gemeisame
Schränke für Wäsche und Kleidung gibt, sind das Indizien dafür, dass es sich
wohl nicht um eine Wohngemeinschaft, sondern um eine eheähnliche Gemeinschaft
handelt. In diesen Fällen sind dann auch die Partnereinkommen auf die
Hilfeleistung anzurechenden.
GerhardVoogt stellte die Fragen
Klaus Müller. Foto: Ilgner
-
Quelle:
Verlag: Rheinisch-Bergische Druckerei- und
Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.271
Datum: Dienstag, den 22. November 2005
Seite: Nr.3