„Wir klagen gegen Hartz IV“
Die Sozialgerichte werden derzeit von
einer Klagewelle überrollt. Immer mehr Hartz-IV-Empfänger
fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Sie kämpfen nicht nur ums Geld,
sondern oft ums Überleben und um ihre Würde. Wir fragten Betroffene, warum sie
vor Gericht ziehen.
VON JÖRG ISRINGHAUS
Mönchengladbach Carsten Göhlmann möchte gerecht
behandelt werden - deshalb ist er vor Gericht gezogen. Streitwert: 36 Euro.
Eine lächerliche Summe, scheint es. Nicht für einen Hartz-IV-Empfänger.
Das Geld, das er zu den Büchern seiner beiden schulpflichtigen Kinder
dazuzahlen soll, muss er woanders einsparen. Was den Vater von insgesamt vier
Kindern aufregt: Hartz-IV-Empfänger erhalten keinen
Zuschuss zu Lehrmitteln. Erwerbsunfähige Sozialhilfeempfänger schon. „Das finde
ich ungerecht. Deshalb habe ich einen Antrag auf Rückerstattung gestellt“, sagt
der 38-Jährige. Der wurde nicht genehmigt. Jetzt klagt der Mönchengladbacher
das Geld ein.
Göhlmann steht nicht alleine da. Am Sozialgericht
Düsseldorf stapeln sich die Klageschriften. Im Jahr 2005, als die
Bundesregierung das vierte Hartz-Gesetz eingeführt
hat, mussten in den ersten sechs Monaten 606 Fälle verhandelt werden. 2006
waren es im Vergleichszeitraum schon 1233 Fälle, in diesem Jahr standen 1599
Klagen an. Die zwei Richter, die 2005 diesen Bereich betreuten, stießen schnell
an ihre Grenzen - mittlerweile arbeiten sich zwölf Richter an der Klage-Welle
ab. „Trotzdem ist die Zahl der Fälle kaum zu bewältigen“, sagt Angelika Preisigke, Pressesprecherin und Richterin am Sozialgericht.
Die strittigen Themen, die verhandelt werden, wiederholen sich. Zumeist geht es
um die angemessene Größe der Wohnung, um die Fragen, ob das Einkommen des
Lebenspartners anrechenbar ist oder ob nicht angenommene Arbeitsangebote zu
geringeren Zahlungen führen, um Mehrbedarf für Kinder oder die Anrechnung
vorhandenen Einkommens. Und um Formfehler in den Jobcentern, entstanden aus der
Unsicherheit bei der Auslegung des neuen Rechts. „Der Klassiker sind
Rückforderungen über zuviel gezahltes Geld seitens der Behörde, die pauschal an
den Haushaltsvorstand gehen“, erklärt Preisigke.
„Dies muss jedoch anteilig pro Haushaltsmitglied exakt aufgeschlüsselt werden.“
Konsequenz: Der Kläger darf sein Geld behalten.
Alles das erklärt nicht die massive Zunahme der Klagen. Ein Arbeitslosenberater
macht strukturelle Defizite des Systems verantwortlich. Vor Hartz
IV habe es einen Widerspruchsausschuss gegeben, an den sich
Sozialhilfeempfänger wenden konnten. Heute müssen sie vor Gericht ihr Recht erstreiten. Dort stehen die Chancen für Hartz-IV-Empfänger
aber nicht schlecht. Etwa jede dritte Klage in NRW ist erfolgreich. In Hessen
liegt die Quote sogar noch höher. Der Gesetzgeber habe bei der Bemessung der Hartz-IV-Sätze die Lebenswirklichkeit nicht genügend
berücksichtigt, sagte Sozialrichter Harald Klein der „Frankfurter Rundschau“.
Für viele Hartz-IV-Empfänger geht es oft einfach ums
Überleben. Wie für Steven Jongaman aus
Mönchengladbach. Der 36-Jährige wurde bezichtigt, mit einer Partnerin zusammen
zu wohnen. Tatsächlich handelte es sich um eine Wohngemeinschaft. „Trotzdem hat
man mir das Geld gestrichen. Das war eine Unverschämtheit.“ Jongaman
klagte. Auch seine Mitbewohnerin musste aussagen - und deren Lebensgefährte. Jongaman bekam Recht. „Aber ich habe drei Monate ohne Geld
dagestanden. Das war eine sehr schwierige Zeit.“
Bei Thomas Suckrow aus Moers dauert sie noch an. Der
25-Jährige bekommt nicht mehr den vollen Hartz-IV-Satz,
weil ihm plötzlich die Warmwasserkosten abgezogen werden - obwohl die vorher in
der Miete enthalten waren. Suckrow legte Widerspruch
ein. Als auch nach drei Monaten noch nichts passiert war, klagte er. „Für mich
ist das ein völlig unverständlicher Vorgang. Ich gehe auf jedes Angebot seitens
des Arbeitsamtes ein - aber deshalb denke ich auch, dass mir der volle Hartz-IV-Betrag zusteht.“
Vor Gericht stoßen die Interessenlagen aufeinander. Die Jobcenter stehen unter
Druck, müssen sparen, weil die Kommunen pleite sind. Die Hartz-IV-Empfänger
kämpfen darum, ihren minimalen Besitzstand zu wahren - und damit wenigstens
ihre Würde. Kritiker bemängeln gerne überzogenes Anspruchsdenken. Carsten Göhlmann kann das nicht nachvollziehen. Er hat eine
Petition an den Landtag eingereicht, fordert Lehrmittelfreiheit für Hartz-IV-Empfänger. Mit vier Kindern würde ihn die
Mehrbelastung irgendwann überfordern. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Die
Familie braucht eine neue Waschmaschine. Laut Jobcenter vertretbar ist eine
acht Jahre alte Maschine für 150 Euro. „Die hat mich aber nicht überzeugt. Eine
neue kostet vielleicht 240 Euro und hält garantiert länger. Wenn mir die nicht
genehmigt wird, muss ich also wieder klagen. Was bleibt mir denn anderes
übrig?“
- /JÖRG ISRINGHAUS
Quelle:
Verlag: Rheinische Post Verlagsgesellschaft mbH
Publikation: Rheinische Post Düsseldorf
Ausgabe: Nr.246
Datum: Dienstag, den 23. Oktober 2007
Seite: Nr.3