Aus: JW Ausgabe vom 21.03.2015, Seite 4 / Inland
»Regelrecht verheizt«
Gravierende Missstände im Hartz-IV-System: Vorstand der Jobcenter-Personalräte kritisiert Führungsspitze
Von Susan Bonath
Foto: Daniel Karmann/dpa
Druck und Überforderung auf beiden Seiten der Schreibtische: Die am Montag bei RTL ausgestrahlte Reportage der Journalisten Torsten Misler und Günter
Wallraff mit dem Titel »Wenn der Mensch auf der Strecke bleibt«
offenbarte gravierende Missstände in deutschen Jobcentern. Darauf hat
jetzt der Vorstand der Personalräte dieser Behörden mit einem Offenen
Brief an die Chefs der Bundesagentur für Arbeit (BA) reagiert.
Mitarbeiter würden vor allem im Leistungsbereich »regelrecht verheizt«.
Ihnen fehle es an Ausbildung und Zeit, Klienten zu beraten, kritisiert
das Gremium unter anderem in dem Schreiben an Frank-Jürgen Weise,
Heinrich Alt und Raimund Becker. Dies sei den Verantwortlichen »seit
Jahren bekannt«, heißt es darin. Auf Wunsch der Verfasser Barbara
Oer-Esser, Gerd Zimmer, Eva Schmauser und Moritz Duncker veröffentlichte
der Sender den Brief am Donnerstag.
Die BA hatte schon bei der Vorankündigung befürchtet, dass die
Reportage dem Image ihrer Behörde schaden könnte. Sie werde »sicher
kritisch ausfallen«, schrieb das Nürnberger »Presseteam« am Tag der
Ausstrahlung per E-Mail (liegt jW vor) an »alle Mitarbeiter«.
Es warnte zudem, das »Team Wallraff« werde »das Thema in jedem Fall
weiterverfolgen«. Deshalb sollten es die Angestellten »uns und den
Pressesprechern vor Ort« mitteilen, wenn Journalisten sie ansprächen. Am
Tag nach der Sendung wandten sich Alt, Weise und Becker persönlich per
E-Mail an »alle Mitarbeiter« (liegt jW ebenfalls vor). Man
nehme »die geschilderten Sachverhalte sehr ernst«, teilten sie mit. Und:
»Wo systematisch Fehler und Mängel vorliegen, wollen wir gemeinsam mit
Ihnen nach guten Lösungen suchen.« Zu ändern seien nur »Dinge, von denen
wir wissen«.
Dies sei »verwunderlich«, gab der Vorstand der Jobcenterpersonalräte
in seinem Schreiben vom Donnerstag gegenüber Alt, Weise und Becker zu
bedenken. »Sie suggerieren damit, Sie hätten von den Missständen bisher
nichts erfahren.« Dabei hätten Personalräte »immer wieder« auf
»Personalmangel, hohe Arbeitsbelastungen, hohen Krankenstand, Mängel bei
der Qualifizierung der Beschäftigten, hohe Fluktuation und die
Befristungspraxis« hingewiesen. »Dass die von Jobcentern eingekauften
Maßnahmen nicht immer zielführend waren, hat Ihnen bereits ihr IAB
(Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, jW) ins Stammbuch geschrieben«, rügten die Verfasser weiter.
So bekämen Mitarbeiter immer mehr Aufgaben und Dienstanweisungen
aufgebürdet, etwa bei der Umstellung auf das neue Computersystem
»Allegro« oder dem Anlegen von digitalen Kundenakten. Es gelinge
Angestellten »immer seltener«, allen Hartz-IV-Berechtigten gerecht zu
werden. In der Folge würden Leistungen zu spät ausgezahlt und Betroffene
nicht sinnvoll oder gar nicht beraten. »So wird die Funktionsfähigkeit
des Sozialstaats faktisch in Frage gestellt«, machten die
Beschäftigtenvertreter deutlich.
Darüber hinaus prangern die Personalräte die Zielvorgaben der BA für
die Jobcenter an. Danach sollen Teamleiter bestimmte Quoten bei der
Vermittlung oder beim »Einsparen« von Geldleistungen erfüllen. Diesen
Druck reichten sie an Sachbearbeiter weiter. Das der »gewerblichen
Wirtschaft entlehnte Steuerungssystem« sei für sozialstaatliche Aufgaben
ungeeignet, so die Personalräte. Es führe »zu einem gewissen
Realitätsverlust an der Spitze«. Bewusst sei den Verfassern dabei, »dass
die Ursachen unter anderem auch in der Politik zu suchen sind«. Einen
Teil könnten die BA-Chefs dennoch zu Verbesserungen beitragen.
»Grundlegende Veränderungen sind aus unserer Sicht überfällig.«
Das »Team Wallraff« informierte am Donnerstag, die BA habe den
Journalisten inzwischen weitere Gespräche angeboten.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sei indes weiterhin nicht zu
einem Interview bereit. Auf Anfrage von jW erklärte das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am Freitag, es wolle
einer Antwort des BA-Vorstands auf den offenen Brief nicht vorgreifen.