Studien der Bertelsmann
Stiftung. 10.05.2015
Armutsgefährdete Kinder sind materiell unterversorgt und sozial benachteiligt
Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als
armutsgefährdet. Verzicht und ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe
sind die Folgen. Doch die staatliche Unterstützung für Familien in
prekären Lebenslagen orientiert sich zu wenig an den Bedarfen der
Kinder. Zu diesen Ergebnissen kommen zwei Studien der Bertelsmann
Stiftung.
In der Bundesrepublik wachsen 2,1 Millionen unter 15-Jährige in Familien
auf, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Eine
repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB) verdeutlicht, was Armut für den Alltag der Kinder
bedeutet: Er ist geprägt von Verzicht und einem Mangel an Teilhabe. Für
eine zweite Untersuchung haben Armutsforscherinnen der Universität
Frankfurt vertiefende Interviews mit Eltern und Fachkräften geführt.
Demnach kann das staatliche Unterstützungssystem Armut nur unzureichend
auffangen.
„Es gibt in Deutschland ein hohes Maß an verdeckter Armut, weil
Familien trotz sehr geringem Einkommen kein Sozialgeld bekommen oder
beantragen. Aber für fast eine halbe Million Kinder gelingt es dem
Sozialstaat, sie über die Armutschwelle zu heben.“
Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung
Unterversorgung für viele Kinder in SGB-II-Familien der Normalfall
Das IAB hat den Lebensstandard von Kindern aus SGB-II-Haushalten
untersucht und mit der Situation von Kindern in gesicherten
Einkommensverhältnissen verglichen. Während im Bereich der elementaren
Grundversorgung nur geringe Benachteiligungen vorliegen, zeigen sich in
anderen Bereichen deutlichere Unterschiede: 20 Prozent der Kinder im
Grundsicherungsbezug leben aus finanziellen Gründen in beengten
Wohnverhältnissen – gegenüber 3,9 Prozent der Kinder, die in gesicherten
Einkommensverhältnissen aufwachsen (Übrige). Drei von vier Kinder,
deren Eltern SGB-II-Leistungen erhalten, können keinen Urlaub von
mindestens einer Woche machen (Übrige: 21 Prozent), 14 Prozent leben in
Haushalten ohne Internet (Übrige: 1 Prozent), 38 Prozent in Haushalten
ohne Auto (Übrige: 1,6 Prozent) und knapp einem Drittel ist es aus
finanziellen Gründen nicht möglich, wenigstens einmal im Monat Freunde
zum Essen nach Hause einzuladen (Übrige: 3,3 Prozent). Bei jedem zehnten
Kind mit SGB-II-Bezug besitzen nicht alle Haushaltsmitglieder
ausreichende Winterkleidung (Übrige: 0,7 Prozent).
Das Aufwachsen von Kindern in armutsgefährdeten Familien ist vielfach
geprägt von einem Bündel an Problemen. Das zeigen Familieninterviews
der Armutsforscherinnen Sabine Andresen und Danijela Galic (Universität
Frankfurt). Zur chronischen Geldnot kommen oftmals Krankheiten, Trennung
der Eltern, beengte Wohnverhältnisse und unsichere Schulwege hinzu.
Erziehung bedeutet für die Eltern häufig Erklärung von Nein-Sagen und
Verzicht. Eine große Belastung, denn auch bei einkommensschwachen Eltern
sind die Kinder der Lebensmittelpunkt: Sie wünschen sich für ihre
Kinder vor allem gute Bildung und sind bereit, dafür eigene Bedürfnisse
zurückzustellen.
Infografik "Alltagswünsche von Familien in prekären Lebenslagen"
Bedarfe der Kinder in den Mittelpunkt stellen
Das Gefühl fehlender Selbstbestimmung führt bei einkommensschwachen
Eltern oftmals zu Resignation und Erschöpfung. Auslöser ist auch
Unzufriedenheit mit staatlicher Unterstützung. Eltern, die von der
Grundsicherung leben, klagen über zu viele behördliche Anlaufstellen,
wechselnde Ansprechpartner und bürokratische Hürden. Sie vermissen, als
Familie mit spezifischen Problemlagen wahrgenommen zu werden. Die
befragten Fachkräfte aus Verwaltung und Bildungseinrichtungen
problematisieren ähnliche Themen und pflichten den Familien bei.
Zeitmangel, bürokratische Hürden und verschiedene Zuständigkeitsbereiche
erschweren passgenaue Unterstützung.
Infografik "Was Eltern und Fachkräfte sich vom staatlichen Unterstützungssystem wünschen"
"Materielle
Unterversorgung und fehlende soziale Teilhabe sind eine schwere
Hypothek, mit der Kinder ins Leben starten", so Jörg Dräger. Wirksame
Armutsbekämpfung müsse die Bedarfe der Kinder in den Mittelpunkt
stellen. Das könne zugleich der Schlüssel sein, um das Vertrauen der
Eltern in staatliche Angebote zu gewinnen, die sich an sie selbst
richten.
Bislang, so die Andresen/Galic-Studie, konzentriere sich die
Familien- und Sozialpolitik zu stark auf die Integration von Eltern in
den Arbeitsmarkt. Empfehlenswert sei die Einrichtung zentraler
Anlaufstellen mit festen Ansprechpartnern, die die jeweilige
Familiensituation kennen. Zugleich sollten strukturelle Veränderungen
Fachkräften mehr Entscheidungsspielräume und eine passgenaue
Unterstützung ermöglichen. Zudem setzt sich die Bertelsmann Stiftung
dafür ein, das Existenzminimum für Kinder zu überprüfen und die
staatliche Grundsicherung anzupassen.
Hintergrundinfo
Als armutsgefährdet wird statistisch eingestuft, wer von
weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Netto-Einkommens lebt.
Diese Schwelle liegt für eine vierköpfige Familie bei 1.848 Euro im
Monat. Von den 2,1 Millionen armutsgefährdeten Kindern leben 950.000 und
damit 8,9 Prozent aller Kinder in Deutschland in Haushalten, die
staatliche Grundsicherung erhalten. Die Familien der restlichen 1,15
Millionen Kinder (10,8 Prozent) beziehen keine SGB-II-Leistungen.
Zusätzlich zu diesen 2,1 Millionen leben 480.000 Kinder (4,5 Prozent) in
Familien, deren Einkommen mit SGB-II-Leistungen oberhalb der
Armutsschwelle liegen.
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