Tausende Einwohner ohne Krankenversicherung: Duisburger Stadtteil Marxloh droht soziale Katastrophe

Aus: Ausgabe vom 18.06.2015, Seite 1 / Titel

Die SPD kümmert’s nicht

Tausende Einwohner ohne Krankenversicherung: Duisburger Stadtteil
Marxloh droht soziale Katastrophe. Stadtspitze entzieht sich Diskussion

Von Markus Bernhardt

Der Staat versagt, ehrenamtliche Initiativen
müssen übernehmen: Katholische Kirche St. Peter und Paul im Duisburger
Stadtteil Marxloh. Pater Oliver Potschien bietet hier eine
Krankensprechstunde an

Foto: Roland Weihrauch/dpa - Bildfunk

Die verheerende soziale Situation im Ruhrgebiet spitzt sich weiter
zu. Nachdem erst vor wenigen Wochen offiziell bekannt geworden war, dass
allein in Duisburg rund 10.000 Menschen ohne Krankenversicherung leben
(siehe jW vom 18.5.2015), hatte die etablierte Politik
zugesagt, schnell für Abhilfe zu sorgen. Geschehen ist bisher nichts. So
scheinen vor allem der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link (SPD)
und sein ebenfalls aus Duisburg stammender Parteifreund,
NRW-Innenminister Ralf Jäger, das Problem aussitzen zu wollen.

Um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen, war Anfang
dieses Monats sogar Sigmar Gabriel (SPD), Vizekanzler und
Bundeswirtschaftsminister, nach Duisburg-Marxloh gekommen und hatte dort
das Sozialpastorale Zentrum an der Katholischen Kirche St. Peter
besucht. Schon seit November 2014 bietet die Gemeinde dort unter Leitung
des gelernten Krankenpflegers und Rettungsassistenten  einmal in der
Woche eine kostenlose Gesundheitssprechstunde für Menschen ohne
Krankenversicherung an. Durchschnittlich 70 Patienten, manche davon mit
schwerwiegenden Erkrankungen, nehmen das Angebot Woche für Woche in
Anspruch. Ins Leben gerufen worden war die ohne jegliche finanzielle
Unterstützung der Stadt arbeitende Sprechstunde, da immer öfter
Beispiele bekannt wurden, das örtliche Krankenhäuser selbst die
Behandlung von Notfallpatienten ohne Krankenversicherung verweigerten
und diese wegschickten.

Bei seinem Besuch am 8. Juni versprach Vizekanzler Gabriel den
Ehrenamtlichen schnelle Hilfe. Das »großartige Engagement« der Marxloher
Bürger für Flüchtlinge und EU-Neubürger drohe zu verpuffen, wenn Stadt
und Land nicht die finanziellen Mittel hätten, es zu unterstützen,
konstatierte er. Er wolle in Berlin Lösungsansätze erarbeiten.

In der Realität deutet hingegen vieles darauf hin, dass zumindest die
Stadt Duisburg überhaupt nicht willens ist, das bemerkenswerte Projekt
zu fördern. Schon in den letzten Monaten waren hochrangige Politiker
Duisburgs, wie etwa Sozialdezernent Reinhold Spaniel (SPD) und auch
Oberbürgermeister Sören Link selbst, durch markige Sprüche und
rechtslastige Parolen aufgefallen, die sich unter anderem gegen in der
Stadt lebende Roma-Familien richteten. Auch aktuell bewies die
Stadtspitze, dass ihr an einer Lösung der bestehenden Probleme nicht
gelegen ist. Informationen der Veranstalter zufolge soll die Stadtspitze
dem örtlichen Gesundheitsamtschef die Teilnahme an einer
Podiumsdiskussion zum Thema »10.000 Menschen ohne Krankenversicherung in
Duisburg« untersagt haben, die ursprünglich für den 23. Juni vom Verein
»Erwerbslose helfen Erwerbslosen« organisiert worden war und nun
abgesagt werden musste. Auf jW-Anfrage verneinte das Büro des Oberbürgermeisters dies am Mittwoch nachmittag.

»Es ist skandalös, dass die Stadt Duisburg keine öffentliche Debatte
darüber zulassen will, dass mehr als 10.000 Menschen ohne
Krankenversicherung sind«, kritisierte die gebürtige Duisburgerin und
Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke). Sie forderte die Stadt
auf, »die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe in letzter Minute
doch noch zu stoppen, die Gesundheitsversorgung für die Menschen zu
gewährleisten und die Initiative Pater Olivers ihren Aufgaben und
Bedürfnissen entsprechend finanziell auszustatten«.

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