Aus: Ausgabe vom 16.09.2015, Seite 4 / Inland
Verfassungswidrige Strafen
Sozialgericht Dresden schließt sich Bedenken Gothaer Richter an.
Oskar Lafontaine sieht sozialen Frieden durch Hartz IV und Lohndumping
gefährdet
Von Susan Bonath
»Wer von Hartz IV, Billiglohn oder einer schmalen
Rente leben muss, darf nicht das Gefühl haben, vergessen zu werden«,
warnte der Linke-Chef im Saarland, Oskar Lafontaine
Foto: Peter Endig/dpa-Bildfunk
Ende Mai erklärte das Sozialgericht Gotha Sanktionen gegen
Hartz-IV-Betroffene für grundgesetzwidrig. Es überwies die Frage an das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. Das Existenzminimum
stehe in Deutschland jedem, selbst Strafgefangenen zu, heißt es in der
Beschlussvorlage. Es dürfe nicht deshalb entzogen werden, weil jemand
Auflagen des Jobcenters nicht einhalte. Damit verstoße das Zweite
Sozialgesetzbuch (SGB II) gegen Menschenwürde und Berufsfreiheit. Mit
dieser Auffassung steht die Gothaer Kammer nicht mehr alleine da: Das
Sozialgericht Dresden schloss sich der Einschätzung in einem am Montag
veröffentlichten Urteil vom 10. August an.
Zu einer zweiten Anrufung des BVerfG kam es aber nicht, weil die
Dresdner Richter die Strafe gegen den Kläger bereits als Verstoß gegen
das SGB II aufhoben. In einem solchen Fall bleibt Richtern der Zugang
nach Karlsruhe versperrt. Der 48jährige Vater von vier Kindern hatte
laut Urteil mehrere Stellenangebote des Jobcenters abgelehnt. In drei
Stufen hatte ihm deshalb das Amt ab 2012 die Leistungen um 30, 60 und
schließlich 100 Prozent gekürzt. Als er sich auf ein weiteres
»Jobangebot« hin nicht beworben hatte, folgte Anfang 2014 eine zweite
sogenannte Vollsanktion. Seine Klage begründete der Mann damit, dass er
arbeitsunfähig gewesen sei. So habe er durch die vorherige Strafe die
Krankenversicherung verloren und keinen Arzt aufsuchen können. Ein
gerichtlich eingeholtes ärztliches Gutachten bescheinigte dem Kläger
schwere psychische Erkrankungen, die seine Arbeitsfähigkeit stark
minderten. Nötig seien langfristige »Maßnahmen zur Wiedereingliederung«.
Dafür wiederum habe der Betrieb, bei dem sich der Mann bewerben sollte,
nach eigenen Angaben keine Kapazitäten.
Das Gericht erklärte, der Kläger habe damit erstens keine Aussicht
auf eine Einstellung gehabt. Zweitens sei das »Angebot« des Amtes aus
medizinischer Sicht nicht zumutbar gewesen. Drittens habe der Betroffene
nicht wiederholt seine »Pflichten verletzt«, da der Zeitraum zwischen
den ersten drei und der letzten Strafe mehr als ein Jahr betragen habe.
Das Jobcenter hätte den Kläger somit nicht das Geld für den
Lebensunterhalt vorenthalten dürfen. Die Richter verpflichteten die
Behörde dazu, die verweigerten Leistungen nachzuzahlen. »Damit kann
offen bleiben, ob die Sanktionsregeln (…) wegen Verstoßes gegen das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
(…) verfassungswidrig sind, wovon die Kammer ausgeht«, erläuterte das
Gericht wörtlich mit Verweis auf den Gothaer Beschluss.
Jährlich verhängen Jobcenter gut eine Million Strafen in Form von
Kürzungen gegen Erwerbslose und Aufstocker. Allein im Mai 2015 waren
knapp 7.000 Bedürftige »vollsanktioniert«. So ergeht es dem Berliner
Ralph Boes. Deshalb nimmt der 58jährige seit 76 Tagen keine feste
Nahrung zu sich (jW berichtete). Kürzlich musste er deshalb in eine Klinik eingeliefert werden. Dutzende Anfragen von Bürgern dazu, die jW
vorliegen, sowie einen Appell der Linke-Kovorsitzenden Katja Kipping
ignorierte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bisher.
Der Linke-Chef im Saarland, Oskar Lafontaine, sieht unterdessen den
sozialen Frieden durch rigide Sozialgesetze und wachsende Armut
gefährdet. Am Montag forderte er die Bundesregierung auf, Hartz IV auf
500 Euro anzuheben und mittelfristig durch eine sanktionsfreie
Mindestsicherung zu ersetzen. Zudem müsse der gesetzliche Mindestlohn
auf mindestens zehn Euro pro Stunde steigen, »damit er wirklich im
Berufsleben und im Alter vor Armut schützen kann«. »Wer von Hartz IV,
Billiglohn oder einer schmalen Rente leben muss, darf nicht das Gefühl
haben, vergessen zu werden«, warnte Lafontaine mit Blick auf steigende
Flüchtlingszahlen. Die Konkurrenz um Wohnung, Jobs und Gehälter treffe
Benachteiligte am stärksten. Die Zuwanderung dürfe die Bundesregierung
»nicht dafür missbrauchen, eine neue Runde der Lohndrückerei zu
eröffnen«. Um die Herausforderung zu meistern, seien jetzt Wohlhabende
zur Kasse zu bitten. »Wir brauchen endlich eine Millionärssteuer bei
großen Vermögen, Erbschaften und Einkommen bei gleichzeitiger Entlastung
der Durchschnittsverdiener«, verlangte Lafontaine. Außerdem seien
Fluchtursachen am ehesten durch einen Stopp der Rüstungsexporte zu
beseitigen.