Aus: Ausgabe vom 20.09.2016, Seite 5 / Inland
Weniger essen
Bedarf einfach weggestrichen: Sozialverbände kritisieren geplante Hartz-IV-Erhöhung als verdeckte Kürzung
Von Susan Bonath
Immer mehr Kinder sind auf karitative Angebote wie das der Hilfsorganisation Arche in Berlin angewiesen
Foto: Stephanie Pilick/dpa- Bildfunk
Pingelig kleingerechnet: Sozialverbände kritisieren die geplante
Minierhöhung der Regelsätze bei Hartz IV sowie Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung. In ihren Stellungnahmen, die der
Sozialrechtler Harald Thomé am Sonntag veröffentlichte, rügen die
Caritas und die Diakonie »verdeckte Kürzungen«. Der Verband
alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) warnt vor weiterer
Verschärfung der Kinderarmut.
Hintergrund ist die diesjährige
Anpassung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG) zum 1. Januar 2017.
Der Referentenentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD)
war Ende August bekanntgeworden. Am Mittwoch wird das Kabinett darüber
abstimmen, Mitte Dezember der Bundestag. Danach sollen die Leistungen
minimal um null (Kleinkinder) bis fünf Euro (Alleinstehende) steigen.
Nur für sechs- bis 13jährige soll es mit 291 Euro pro Monat abzüglich
Kindergeld 21 Euro mehr als bisher geben.
Zwar legte das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für die Berechnungen
die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) für 2013 zugrunde. Das
Bundesverfassungsgericht hatte 2010 vorgegeben, die aktuellen Zahlen
daraus für die Berechnung zu verwenden. Karlsruhe habe aber die
Referenzgruppe der ärmsten Haushalte auf die untersten 15 Prozent
begrenzt, bemängelte Caritas-Generalsekretär Georg Cremer. Zudem seien
darin auch Menschen erfasst, die Ansprüche auf Sozialleistungen nicht
geltend gemacht hatten, also unterhalb des Existenzminimums lebten,
sowie Studenten im BAföG-Bezug. Bei letzteren seien jedoch besondere
Vergünstigungen nicht einbezogen und spezielle Bedarfe herausgerechnet
worden. Ferner, so Cremer, müssten Betroffene weiterhin für den Ersatz
von Elektrogeräten wie Kühlschränken, Herden und Waschmaschinen,
Minibeträge aus dem Regelsatz ansparen. Sehhilfen seien gar nicht
erfasst. Dabei habe Karlsruhe verlangt, unabdingbare Sonderbedarfe als
einmalige Hilfe zu gewähren, monierte er.
Thomas Becker, bei der Caritas für Sozialpolitik verantwortlich,
verwies zudem auf die steigende Zahl von Stromsperren. Der für
Einpersonenhaushalte veranschlagte Anteil für Haushaltsenergie und
-instandhaltung soll nach dem Willen von Ministerin Nahles von 33,77 auf
34,19 Euro steigen. Nach einem Verbrauchscheck der Caritas lägen die
tatsächlichen Kosten allein für Strom um zehn Euro höher.
Leistungsbezieher könnten weniger sparen, weil ihnen günstigere Anbieter
oft den Wechsel verwehrten. »Und effiziente Geräte können sie sich auch
nicht leisten«, stellte Becker klar. Insgesamt liegen die
Sozialleistungen laut Caritas um 60 Euro zu niedrig.
Die Diakonie sieht das ähnlich und überprüfte zudem die Orientierungswerte
des BMAS. Ergebnis: Selbst die Ausgaben der ärmsten Haushalte habe es
»unsachgemäß kleingerechnet«. Danach haben Bedürftige beispielsweise
keine Ansprüche auf Malstifte für Kinder, ein Mobiltelefon,
Tragetaschen, Regenschirme, Weihnachtsschmuck, ein Auto auf dem Land,
eine Haftpflichtversicherung und Schulbedarfe über das »Bildungspaket«
von 100 Euro pro Jahr hinaus. Unklare Abzüge fänden sich außerdem bei
Nahrungsmitteln, Mobilität, Bildung, Gesundheit und Freizeit. So habe
das BMAS für Alleinstehende rund 150 Euro weniger Ausgaben veranschlagt,
als das Statistische Bundesamt bei den ärmsten Haushalten erfasste. Bei
Kindern und Jugendlichen habe es 65 und 80 Euro herausgerechnet. Danach
sei die knappe Anhebung der Bezüge tatsächlich eine Kürzung, fasste
Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie zusammen.
Antje Asmus vom VAMV bemängelte überdies, Alleinerziehenden und umgangsberechtigten
Eltern werde weiterhin ein Mehrbedarf verweigert. »So wird ihre bekannte
Armutslage weiter verschärft«, rügte sie. Hinzu komme, dass Jobcenter
auch nach der Hartz-IV-Reform vielen Müttern den Anteil vom
Kinderregelsatz für die Tage abzögen, an denen sich der Nachwuchs beim
Vater aufhält. Erstere würden so genötigt, den Umgang des Kindes mit dem
Vater aus finanziellen Gründen zu drosseln. Wie kürzlich eine Studie
der Bertelsmann-Stiftung ergeben hatte, lebt die Hälfte der zwei
Millionen Kinder im Hartz-IV-Bezug in einer Einelternfamilie (siehe jW vom 13.9.).