Armut trifft in Westdeutschland mehr Menschen
Erstellt 22.09.2016
Wiesbaden –
Von Armut sind im Westen Deutschlands mehr Menschen
bedroht als vor zehn Jahren. Im Osten ist die sogenannte
Armutsgefährdungsquote dagegen gesunken - allerdings auf höherem Niveau
und mit Ausnahme von Berlin. In ganz Deutschland galt 2015 mehr als
jeder Siebte als arm, ein Prozentpunkt mehr als 2005, wie das
Statistische Bundesamt mitteilte. Den stärksten Anstieg des
Armutsrisikos verzeichnete Nordrhein-Westfalen. Überdurchschnittlich
hoch war er auch in Berlin und Bremen. Der Rückgang war am stärksten in
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. (dpa)
http://www.fr-online.de/newsticker/armut-trifft-in-westdeutschland-mehr-...
Statistik Höhere Löhne + mehr Arbeit = mehr Armut?
Volle oder leere Taschen: Die aktuellen Statistiken zur
Armutsentwicklungen liefern nur bedingt Antworten auf die Frage nach der
Armutsentwicklung in Deutschland.
Foto: imago/epd
Die Löhne steigen, mehr Menschen sind berufstätig und dennoch steigt die
Zahl der Armen - zu diesem Schluss kann kommen, wer den jüngsten
Bericht des Statistischen Bundesamts liest. Woran liegt das?
Die Armut wächst im Westen. So könnte
eine Schlagzeile lauten. Immer mehr Arme in NRW, Berlin und Bremen,
ginge auch. Oder: Armut im Osten seit 2005 rückläufig. All diese
Überschriften könnte man über den jüngsten Bericht des Statistischen
Bundesamts platzieren, ohne dessen Inhalt zu verfälschen: Danach hat die
Armutsgefährdung in den alten Ländern mit Ausnahme Hamburgs zwischen
2005 und 2015 zugenommen, während sie in den ostdeutschen gesunken ist.
In NRW stieg die Armutsquote (die Statistiker sprechen auch
Armutsgefährdungsquote) um 3,1 Punkte auf 17,5 Prozent, in Berlin waren
es 2,7 Punkte auf 22,4. In Bremen legte die Quote um 2,5 Punkte gar auf
25,8 Prozent zu.
Die deutlichsten Rückgänge
verzeichneten Brandenburg und Mecklenburg- Vorpommern um je 2,5 Punkte
auf 16,8 und 21,7 Prozent sowie Sachsen-Anhalt mit minus 2,3 Punkten auf
20,1 Prozent. Summa summarum ist der Osten dennoch weiterhin ärmer als
der Westen, die Armutsquote im gesamten Bundesgebiet stieg zwischen 2005
und 2015 von 14,7 auf 15,7 Prozent.
Die Botschaft
„Armut auf dem Vormarsch“ wäre klar, wenn da nicht weitere
Datensammlungen wären, die das Statistische Bundesamt ebenfalls am
Donnerstag veröffentlicht hat: Sie dokumentieren zum eine sinkende
Armutsquote in Berlin und zum Zweiten die geringsten Armutsquoten für
die östlichen Bundesländer. Zum Dritten zeigen sie um 2,5 Prozent
gestiegene Reallöhne im ersten Halbjahr 2016, nach Zuwächsen von 2,4
Prozent im Jahr 2015 und 1,9 Prozent 2014. Auch hat die Zahl der
Erwerbstätigen mit mehr als 43,5 Millionen ein Allzeithoch erreicht,
gleiches gilt für die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit
31,4 Millionen, während die Arbeitslosenquote von 2005 bis heute von
11,7 auf 6,1 Prozent gesunken ist.
Steigende Löhne, mehr Jobs, mehr Armut?
Steigende
Löhne, immer mehr Jobs, weniger Arbeitslose – und dennoch wachsende
Armut? Wie passt das zusammen? Es passt durchaus, was zunächst mit der
Definition des Armutsbegriffs zu tun hat: Als armutsgefährdet werden in
der amtlichen Statistik Personen geführt, die weniger als 60 Prozent des
mittleren Einkommens (Medianeinkommen) zur Verfügung haben. Der Median
markiert den zentralen Wert, von dem aus die Anzahl der niedrigeren
Einkommen genauso groß ist wie die der höheren.
Im
Vergleich zum Durchschnittseinkommen ist der Median sehr viel
aussagekräftiger, um das tatsächlich verfügbare Einkommen der
Bevölkerungsmehrheit anzugeben. Trotz größerer Realitätsnähe hat aber
auch der Median seine Tücken. Denn damit wird Armut vollständig zur
relativen Größe. Armut kann wachsen, obwohl die Menschen mehr Geld haben
als zuvor, oder sinken, selbst wenn die Leute über weniger Geld
verfügen. Ein Beispiel: Das angenommene Jahresmedianeinkommen beträgt 20
000 Euro pro Erwerbstätigem. Die Armutsschwelle von 60 Prozent liegt
mithin bei 12 000 Euro. Wer 12 100 Euro hat, gilt statistisch also nicht
als armutsgefährdet. Nun steigt das Medianeinkommen um fünf Prozent auf
21 000 Euro, die Armutsschwelle auf 12 600. Die unteren Einkommen legen
aber nur um drei Prozent zu. Damit wächst das 12 100-Euro-Einkommen
zwar auf 12 463 Euro, es befindet sich nun aber unterhalb der
60-Prozent-Grenze. So wird aus einer zunächst statistisch nicht armen
Person trotz Einkommensplus von 363 Euro eine arme.
Dieser
Mechanismus funktioniert auch in umgekehrter Richtung: Das
Medianeinkommen sinkt um fünf Prozent von 20 000 auf 19 000 Euro, und
damit auch die Armutsschwelle von 12 000 auf 11 400 Euro. Bei den
Niedrigeinkommen beträgt das Minus nur drei Prozent. Folge: Eine Person,
die mit einem Einkommen von 11 900 Euro zunächst als armutsgefährdet
galt, liegt ungeachtet eines Minus von 357 Euro nunmehr mit einem
Jahreseinkommen von 11 643 Euro plötzlich über der Armutsgrenze.
Mit
solchen Effekten lassen sich auch widersprüchliche Aussagen über die
Entwicklung in Berlin und die geringen Armutsanteile im Osten erklären.
Gemessen am Bundesmedianeinkommen ist die Armutsquote in Berlin wie
erwähnt von 19,7 auf 22,4 Prozent gestiegen. Nimmt man das Berliner
Medianeinkommen als Maßstab, sieht es anders aus. Danach hatten 2005
16,1 Prozent der Hauptstadt-Haushalte weniger als 60 Prozent des
mittleren Berliner Haushaltseinkommens zu Verfügung, 2015 waren es „nur“
noch 15,3 Prozent. Wie kann das sein? Das mittlere Einkommen bundesweit
ist schneller gestiegen als das in Berlin, so dass die Armutsgefährdung
im Verhältnis zum hauptstädtischen Medianeinkommen ab-, im Verhältnis
zum Bund aber zugenommen hat.
Bleibt die Frage,
wie aussagekräftig bundesweite Statistiken zur Armutsentwicklung sind,
zumal unterschiedliche Lebenshaltungskosten keine Rolle spielen. Die
Antwort: allenfalls bedingt.
http://www.fr-online.de/wirtschaft/statistik--hoehere-loehne---mehr-arbe...
Aus: Ausgabe vom 23.09.2016, Seite 1 / Titel
Noch viel mehr Arme
Laut Statistischem Bundesamt steigt die Armutsgefährdungsquote
weiter an. Dabei werden etliche Menschen aus der Statistik rausgerechnet
Von Claudia Wrobel
In der BRD gibt es viele arme Kinder – in der Statistik wird deren Anzahl allerdings nicht komplett abgebildet
Foto: ddp images
Arm sein ist ganz und gar nicht sexy – auf gegenteilige Ideen können
nur hochbezahlte Staatsbedienstete kommen, die alles unter
Marketinggesichtspunkten bewerten und für die »Armut« lediglich ein
abstrakter Begriff ist. Wer sich, selbst wenn er mit dem
Hauptstadtflughafen BER Deutschlands teuerste Langzeitbaustelle
geschaffen hat, keine Sorgen um seine monatlichen Bezüge zu machen
braucht wie Klaus Wowereit (SPD), der ehemalige Regierende Bürgermeister
von Berlin, dem gehen solche Floskeln leicht über die Lippen. Wer
allerdings nach der Anhebung der Hartz-IV-Bezüge um wenige Euro, die am
Mittwoch beschlossen wurde, noch immer nicht weiß, wie er am Ende des
Monats das Abendbrot bezahlen soll, kann über solche Phrasen nicht mal
mehr müde lächeln.
Und Deutschland wird immer ärmer, zumindest ein
Großteil der Bevölkerung. Am Donnerstag veröffentlichte das
statistische Bundesamt neue Zahlen zur Armutsgefährdung. Diese ist
bedenklich gestiegen in den vergangenen zehn Jahren: In
Nordrhein-Westfalen galten im vergangenen Jahr 17,5 Prozent der
Einwohner als arm – das ist ein Anstieg um 3,1 Prozentpunkte im
Vergleich zu 2005. In den Stadtstaaten Berlin und Bremen sieht es sogar
noch schlimmer aus: Jeder vierte bis fünfte gilt hier als arm. Und auch
die Bundesländer, in denen die Armutsgefährdung überdurchschnittlich
gesunken ist, wie Mecklenburg-Vorpommern (21,7 Prozent), Sachsen-Anhalt
(20,1 Prozent) oder Brandenburg (16,8 Prozent), bewegen sich noch immer
auf einem hohen Niveau. Generell ist die Quote in Ostdeutschland mit
19,7 Prozent fünf Punkte höher als im Westen.
Dabei tut die Politik alles, um die offiziellen Zahlen zu schönen.
Der Vergleichswert wird dynamisch mit Hilfe des mittleren Einkommens
festgelegt: Die Hälfte in der BRD verdient mehr, die andere weniger. Wer
nur auf 60 Prozent dieses Wertes kommt, gilt als armutsgefährdet. Diese
Schwelle lag 2015 bei 942 Euro. In die Statistik fließen allerdings
nicht alle Personen gleichermaßen ein, die mit sowenig Geld auskommen
müssen: Der ersten erwachsenen Person in einem Haushalt wird ein
»Bedarfsgewicht« 1 zugeordnet. Weitere Menschen im gleichen Haushalt,
die älter als 14 Jahre sind, werden aber lediglich mit 0,5 »gewichtet«,
Kinder mit einem Faktor von 0,3. Auf dieses Zahlenspiel hat sich die
OECD verständigt, weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames
Haushalten sparen lasse. Arm sind die Leute aber so oder so, ob sie die
Stromrechnung gemeinsam tragen müssen oder allein.
Auf ein
Konzept, der immer deutlicher hervortretenden Armut zu begegnen, wartet
man allerdings vergeblich. Vielleicht auch, weil die Vorstellung, von
einem Einkommen unter tausend Euro im Monat leben zu müssen,
Entscheidungsträgern in diesem Land sehr fremd ist. Sogar wenn sie ihren
Job verlieren, werden sie nicht in der Schlange vor dem Jobcenter
stehen und ihre gesamten privaten Verhältnisse offenlegen müssen, um
Leistungen beziehen zu können. Daniela Augenstein, die ehemalige
Sprecherin des Berliner Senats, die am Dienstag nach 21 Monaten in den
Ruhestand versetzt wurde, bekommt als Beamtin ein sogenanntes Ruhegehalt
als Übergangsgeld: Drei Monate lang stehen ihr volle Bezüge in Höhe von
monatlich 8.906 Euro zu, weitere 21 Monate etwa 72 Prozent, also 6.390
Euro. Um auf eine solche Summe, insgesamt 160.908 Euro, zu kommen,
müssten Menschen mit einem »Einkommen« von 942 Euro mehr als 14 Jahre
lang arbeiten.