Sozialticket-Anhörung A 02-01.07.2014
Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Bauen, Wohnen und Verkehr am 1.7.2014
Antwort Initiative für ein Sozialticket in Düsseldorf
1. Wie beurteilen Sie das Sozialticket NRW unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten im Hinblick auf die Sozialgesetzgebung des Bundes und das sozialpolitisch zu verortende Grundrecht auf Teilhabe an Mobilität sowie die dafür vorgesehenen Transferleistungen?
Die Sicherung der Teilhabe von einkommensarmen Menschen ist grundsätzlich Aufgabe des Bundes. Länder und Kommunen müssen sich mit dieser Problematik und deren Folgen auseinandersetzen. Die Initiative NRW-Regierung (ähnlich wie Brandenburg, Berlin, Hamburg und Bremen) in Form eines Förderprogramms gezielte Unterstützung zu leisten ist generell begrüßenswert.
Das sogenannte Sozialticket NRW ermöglicht das Grundrecht auf Teilhabe an Mobilität allerdings nicht ausreichend. In der Praxis erreicht es leider nur einen kleinen Teil der Anspruchsberechtigten. Einige Modelle (z.B. Düren, Münster, Bielefeld) sind näher an diesem Ziel als andere. Im größten Verbund (VRR) wird lediglich eine NutzerInnenquote von etwa 7% erreicht und es zeigt sich, dass dieses Ticketmodell deutlich zu teuer ist. Bei der von Gewerkschaften und Sozialverbänden ohnehin generell als deutlich zu niedrig kritisierten Berechnung und Aufteilung des Regelsatzes sind gerade einmal 19,90 € für den Nahverkehr vorgesehen (für PartnerInnen in der Bedarfsgemeinschaft 17,96 € und für unter 25Jährige 15,93 €).
2. Wer ist lhrer Ansicht nach in erster Linie verantwortlich für ein Sozialticket, das sich Menschen mit niedrigen Einkommen (z.B. auf SGB II oder SGB Xll-Niveau bzw. unwesentlich hoher) leisten können?
Unter aktuellem Regelleistungsniveau im SGBII und XII halten wir das grundsätzliche Modell von Landesmittel und den Ansatz der NutzerInnen- bzw. bedarfsorientierter Umsetzung in den Verkehrsverbünden grundsätzlich für pragmatisch sinnvoll (auch wenn dies in der Praxis nicht befriedigend umgesetzt wird). Auch eine weitere Mitfanzierung durch Kommune mit entsprechender Haushaltslage ist als Übergangslösung sinnvoll.
Grundsätzlich halten wir eine Anpassung der Transferleistungen an den realen Notwendigkeiten der Betroffenen auf Bundesebene für erforderlich.
3. Wie preis- bzw. kostensensibel sind die Zielgruppen des Sozialticket, d.h. wie wirkt sich der Preis auf die Nachfrage aus? Gibt es dazu empirische Befunde?
Als Beispiel ist hier das Modell Dortmund zu nennen. Von den ehemals 24.500 AbonnentInnen (ca. 25% der Berechtigten) des im Februar 2008 eingeführten Sozialtickets für 15,- sind mit der Preiserhöhung im Februar 2010 auf 30,- € und der ab 9.00 Uhr Einschränkung etwa 7.000 übrig geblieben, trotz Erweiterung des Berechtigtenkreises um die Gruppe der WohngeldbezieherInnen.
Auch der Kreis Unna hatte im Dezember 2008 ein kreisweit gültiges Sozialticket zum Preis von 15,- € eingeführt. Ab April 2010 wurde das Angebot deutlich verteuert und die NutzerInnenzahlen in etwa halbiert.
4. Welche Leistungen müssten in einem Sozialticket beinhaltet sein, damit es auch über
den Preis hinaus attraktiv ist?
Die Erreichbarkeit der nächst liegenden Stadt muss gewährleistet sein. Insb. im eher ländlichen Bereich. Eine kostengünstige Erweiterung der Fahrtziele in angrenzende Städte wäre für viele notwendig. Eine Ganztagsnutzung muss möglich sein. In vielen Städten und Verbünden haben InhaberInnen von regulären Monatskarten das Recht, abends und im Wochenendverkehr weitere Personen mitzunehmen. Die Konditionen des Sozialtickets sollten davon nicht abweichen. Ein (zusätzliches) Angebot auch für Gelegenheitsfahrer, etwa nach dem Kölner Modell, ist sehr zu befürworten. Die Übertragbarkeit ist/ wäre sehr hilfreich für viele NutzerInnen (VRS-Modell).
5. Wie teuer sollte ein Sozialticket maximal sein, damit es sich die definierten Zielgruppen leisten können?
Unter Berücksichtigung des aktuellen Regelleistungsniveaus, dessen problematischer und nicht ausreichender Ausgestaltung und der bisherigen Erfahrungen mit konkreten Modellen sind 15,- € die wahrscheinlich maximal angemessene Preisobergrenze.
6. Wie müsste ein diskriminierungsfreies Sozialticket aussehen?
Da die Berechtigung zum Ticketerwerb vor dem Kauf geprüft wird, muss und soll sich das Sozialticket überhaupt nicht von anderen Monatstickets mit gleichem Leistungsumfang unterscheiden.
7. Halten Sie das Sozialticket (in seiner bestehenden oder in seiner idealen Form) für einen wichtigen Pfeiler der sozialen Teilhabe einkommensschwacher Menschen?
Das Sozialticket in ausreichender Form, zu angemessenem Preis wäre ein extrem wichtiger Schritt zur notwendigen Mobilität und sozialen Teilhabe. In seinen aktuellen Formen ist es für einige, wenige ein immer noch zu teures Angebot für etwas mehr Mobilität.
8. Wie bewerten Sie grundsätzlich die Initiative des Landes, für Sozialtickets in NRW Zuschüsse in Hohe von 30 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen?
Die Landesinitiative mit Zuschüssen von 30 Mil. Euro war zwar ein erster Schritt zur konkreten Einführung von Modellen. Die Summe dürfte aber nicht ausreichend sein, auch wenn bis jetzt, aufgrund der übervorsichtigen oder offensichtlich unattraktiven konkreten Modellgestaltung der Verkehrsverbünde, diese bei weiten nicht ausgeschöpft wird.
9. Wer ist für die Einführung und inhaltliche Ausgestaltung von Sozialtickets in NordrheinWestfalen zuständig?
Zuständig sind Land (Finanzierung, notwendige Mindeststandarts, Anreize zu besserer Gestaltung), Verkehrsverbünde (Umsetzung) und evt. übergangsweise die Kommune mit ausreichendem Finanzspielraum. Eine demokratische Einbindung von Fahrgästen und BürgerInnen in die Entscheidungsprozesse wäre sinnvoll.
10. Wie werden nach lhrer Kenntnis die Mittel zur Anreizfinanzierung von den Verkehrsunternehmen und Verbänden abgenommen?
Die Verkehrsunternehmen schöpfen die Landesfinanzierung nicht aus. Mehrere Millionen bleiben ungenutzt. Allein der VRR läßt jährlich etwa 6 Millionen Euro ungenutzt, die für attraktivere, günstigere Tickets bereit stehen. Die konkreten Modelle werden nicht ausreichend angenommen, sie sind zu wenig attraktiv.
11. Welche Angebote von Sozialtickets für verschiedene Nutzergruppen existieren in NRW und wie bewerten Sie diese?
Ein Ticket kann nur dann als Sozialticket bezeichnen werden, wenn es zumindest mit dem im Regelsatz zur Verfügung stehenden Betrag für ÖPNV-Nutzung erworben werden kann. Diese Bedingung erfüllen die aktuellen Angebote meist nicht annähernd. Es gibt das wenig attraktive und gering genutzte Angebot (7%) im größten Verbund (VRR). Andere Verkehrsbetriebe; Verbünde und Regionen bieten ähnliche Modelle wie der VRR an (Olpe, Siegen, Aachen). Etwas attraktiver, aber immer noch zu teuer ist das VRS-Modell (Übertragbarkeit, weitere Angebote/ Zonen, reduzierte Vierertickets). Schon (etwas) günstiger und damit etwas attraktiver sind die Modelle Düren, Münster, Unna und Bielefeld. In anderen Gegenden gibt es noch keine Modelle.
12. Wer sind die derzeitigen Zielgruppen, für die Sozialtickets in NRW verfügbar sein sollen bzw. konnten, und wie groß sind sie (in NRW insgesamt und in den Kommunen und Kreisen)?
Zielgruppe des Sozialtickets sollten alle SozialleistungsbezieherInnen und GeringverdienerInnen sein (SGBII-Satz Plus 15%) um alle Armutsgefährdeten einzubeziehen (ca. 2,6 Mio. in NRW, in Düsseldorf ca. 90.000 nach verschiedenen Berechnungen, z.B. Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 2013).
13. Welche konkreten Erfahrungen haben Sie mit dem bestehenden Sozialticket in lhrer Kommune / lhrem Kreis bzw. lhrem Aufgabengebiet machen können?
Das Sozialticket wird in Düsseldorf insgesamt nur gering angenommen. Es ist zu teuer. Viele Berechtigte nehmen deshalb Einzeltickts und/oder vermeiden Mobilität. Im VRR-Bereich liegt die Nutzungsquote jedoch etwas über dem Durchschnitt, da über das Angebot ausreichender informiert wurde und das Fahrtenangebot innerhalb Düsseldorfs relativ attraktiv ist.
14. Sehen Sie an bestimmten Punkten einen Änderungsbedarf, z.B. in Bezug auf die Berechtigten?
Eine günstigere Möglichkeit den Geltungsbereich zu erweitern wäre nötig. Eine Übertragbarkeit und zusätzliche vergünstigte Einzelltickets sind sinnvoll, sowie die grunsätzliche Einbeziehung der Geringverdiener Innen.
15. Kennen Sie Beispiele für bezogen auf den Nutzerkreis erweiterte Sozialtickets und wodurch zeichnen sie sich (ggf. auch im Unterschied zu den in NRW bestehenden Varianten) aus?
In Lübben und Templin gab es für alle Fahrgäste ein kostenloses Angebote, das durch Steuern, Emissionsabgaben oder Kfz-Parkplatzgebühren finanziert wurde. In Templin fuhren im Rahmen eines zweijährigen Modellprojekts die Stadtbuslinien kostenlos.
In Tübingen gibt es Überlegungen die kostenlose Busnutzung einzuführen.
2013 wurde in Tallinn der kostenlose Nahverkehr für die BürgerInnen eingeführt.
Das belgische Hasselt hatte bis 2013 kostenlosen Nahverkehr ermöglicht. Ähnliches gibt oder gab es auch in Seatle und weiteren US-Amerikanischen Städten sowie in Châteauroux, Frankreich (seit 2001).
16. Wie hoch sind die kommunalen · Verwaltungskosten im bestehenden Sozialticketsystem?
Ob und evt. wie hoch kommunale Verwaltungskosten durch Sozialticketsysteme entstanden sind, ist uns nicht bekannt.
17. Welche Änderungen an den bisherigen Vorschriften bzw. Angeboten zu Sozialtickets in NRW empfehlen Sie und wer wäre jeweils dafür zuständig?
Eine günstigere Möglichkeit den Geltungsbereich zu erweitern wäre nötig. Eine Übertragbarkeit und zusätzliche vergünstigte Einzelltickets sind sinnvoll. Dies läge dann in der konkreten Umsetzung durch die Verkehrsbetriebe.
Sinnvoll wären positive und/ oder negative Sanktionierungen der Verkehrsunternehmen zur Einführung und zu Mindeststandarts für Sozialtickets durch das Land.
18. Befürworten Sie die Ausdehnung auf weitere Nutzergruppen? Wenn ja: Auf welche?
Zielgruppe des Sozialtickets sollten alle SozialleistungsbezieherInnen und GeringverdienerInnen sein (SGBII-Satz Plus 15%) um alle Armutsgefährdeten einzubeziehen.
Die kostenlose Abgabe von Sozialtickets an Asylbewerber sollte erfolgen.
19. Wie teuer wäre ein je nachdem ausgeweitetes Sozialticket wahrscheinlich für Kommunen, Kreise, Land oder Sund? Wie errechnen sich diese Kosten? Bitte beachten Sie hier auch mögliche Mehrerlöse und Mindereinnahmen
Nach verschiedenen Schätzungen wäre sofort eine Preisreduzierung z.B. beim VRR Modell auf knapp über 20,- € möglich. Damit würden die Landesmittel komplett genutzt und Mehrkosten bzw. Mindereinnahmen würden nur gering anfallen. Die genaue Entwicklung ist nur sehr vage zu prognostizieren. Ein Sozialticket zu den aktuellen Bedingungen für TransferleisungsbezieherInnen und GeringverdienerInnen könnte zu Mindereinnahmen von ca. 60 Mil. Euro pro Jahr führen.
20. Halten Sie das Argument für plausibel, dass aus der zusätzlichen mit einem bedarfsgerechten Sozialticket generierten Nachfrage erhebliche Kosten (für zusätzliche Fahrten und zusätzliche Fahrzeuge) entstehen?
Wir sehen keine nachvollziehbaren Indizien für erhebliche Mehrkosten für eventuelle zusätzliche Fahrten und Fahrkosten. Dafür kennen wir aus den bisherigen Modellen keine Hinweise.
21. Über welche alternativen Sozialticketsysteme ließen sich Verwaltungskosten ggf. reduzieren?
Die geringsten Verwaltungskosten entstehen, wenn der ÖPNV komplett fahrscheinfrei funktioniert.
22. Welche Auswirkungen hätte nach ihrer Auffassung eine Ausweitung des Nutzerkreises beim vorhandenen Finanzrahmen von 30 Million € pro Jahr?
Allein die Ausweitung des NutzerInnenkreises könnte erst einmal zur weiteren Ausschöpfung der bisher ungenutzten Finanzmittel führen.
Stellungnahme von AKOPLAN – Institut für soziale u. ökologische Planung e.V., Dortmund: