IAB-Studie belegt, dass Jugendliche durch Hartz-IV-Sanktionen vom Arbeitsmarkt vertrieben werden

 

Aus: Ausgabe vom 10.02.2017, Seite 5 / Inland

»Unerwünschte Nebenwirkungen«

IAB-Studie belegt, dass Jugendliche durch Hartz-IV-Sanktionen vom Arbeitsmarkt vertrieben werden

Von Susan Bonath

Zwei Männer betreten in Hannover ein Jobcenter (24. Januar 2012)

Foto: dpa/Barbora Prekopova

Am Mittwoch hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB), eine Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, seine
Studie »Wirkungen von Sanktionen für junge ALG-II-Bezieher« vorgestellt.
Das Fazit: Leistungskürzungen für unter 25jährige führen zwar bei einem
Teil der Betroffenen zu schnellerer Arbeitsaufnahme, sie wirken bei
anderen jedoch destruktiv.

Es geht um junge Hartz-IV-Bezieher
zwischen 15 und 24 Jahren. Seit einer Gesetzesverschärfung 2007 werden
sie noch härter drangsaliert als ältere. Brechen sie eine Ausbildung ab,
ignorieren sie ein Stellenangebot oder weisen sie zu wenige Bewerbungen
nach, kann ihnen vom Jobcenter für drei Monate der komplette Regelsatz
gestrichen werden. Verstoßen sie ein zweites Mal innerhalb eines Jahres
gegen eine Auflage, fällt womöglich die gesamte Leistung weg, also auch
Mietzuschuss und Krankenversicherung. Bei älteren führt die dritte
Pflichtverletzung zu einer Totalsanktion, vorher gibt es Kürzungen von
30 und 60 Prozent. Sozialverbände kritisieren die rigide Praxis als
existenzgefährdend und menschenunwürdig.

Das IAB untersuchte, wie
die Strafen auf männliche Jugendliche in Westdeutschland wirkten. Die
»Abgangsraten in Beschäftigung« fielen bei erstmals sanktionierten
Alleinlebenden doppelt so hoch aus wie bei nicht Sanktionierten. Bei
Betroffenen mit einer Folgekürzung lagen sie um 150 Prozent höher.

Arbeitsagenturen und Jobcenter vermittelten 2014 insgesamt 271.000
Bezieher von Arbeitslosengeld I oder Hartz IV in eine Beschäftigung,
unabhängig von der Qualität derselben. Das hatte die Bundesregierung auf
Anfrage der Grünen vor zwei Jahren mitgeteilt. Etwa die Hälfte der
Vermittelten war nach einem Jahr erneut erwerbslos. Insgesamt bezogen
damals fünfeinhalb Millionen Erwerbsfähige eine dieser beiden
Leistungen. Zu einem Job verhalfen die Behörden gerade einmal 5,5
Prozent ihrer arbeitssuchenden Klienten.

Laut IAB verstärkt die Vorenthaltung des Existenzminimums bei Jugendlichen »Anreize zur
Arbeitssuche«. Zugleich führten die Strafen jedoch zu »unerwünschten
Nebenwirkungen«. Nicht nur, dass die so unter Druck Gesetzten im Schnitt
fünf Prozent weniger Lohn in Kauf nähmen als die übrigen Vermittelten,
wobei Hartz-IV-Beziehern im ersten halben Jahr kein Mindestlohn zusteht.
Viele der Bestraften zögen sich auch ganz aus dem Arbeitsmarkt zurück.
Was das heißt, ist vor allem in größeren Städten zu beobachten: Die Zahl
junger Erwachsener ohne Wohnung, die betteln und oft nicht einmal
krankenversichert sind, wächst. Das konstatieren auch Hilfsvereine.

Aufgrund der festgestellten Auswirkungen plädiert das IAB für eine Reform des
Sanktionssystems, »die sehr einschneidende Leistungsminderungen
vermeidet«. Vom Tisch dürfe dieses Druckmittel aber nicht, verlangten
sie. Die Verteidigung der Strafpraxis kommt aus Sicht der
Bundesregierung zur rechten Zeit. Denn aktuell befasst sich das
Bundesverfassungsgericht damit. Den Erwerbslosenverein Tacheles hat es
zur Stellungnahme aufgefordert. In der Beschlussvorlage, über die es
entscheiden soll, kritisiert das Sozialgericht Gotha Kürzungen des
Minimums als menschenunwürdig. Ferner verstießen Sanktionen gegen die
Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl. Die
IAB-Forscher beriefen sich erneut darauf, Betroffene könnten ergänzende
Sachleistungen erhalten. Die Gothaer Richter sind hingegen der Meinung,
dass dies keine Pflichtleistung ist. Außerdem deckten die gängigen
Lebensmittelgutscheine keine Grundbedürfnisse wie Wohnen, Energie und
ein Minimum an Mobilität ab.

https://www.jungewelt.de/2017/02-10/021.php