Notschlafstelle. In der Unterkunft in Heerdt habe ihr eine Frau gedroht,
die Kehle durchzuschneiden. Sie fährt sich mit der Hand am Hals
entlang. Also schläft sie wieder draußen. Hat sie Angst? „Meine Freunde
beschützen mich“, sagt sie und zeigt auf die Männer, die links und
rechts von ihr sitzen. Einer hat Kopfhörer in den Ohren und schaut auf
sein Handy, der andere trinkt Weißwein aus der Flasche und blickt ins
Leere.
Die Gruppe hat zwei Zelte in einem Vorhof des NRW-Forums aufgeschlagen. Die
drei sitzen auf der Steinbank vor dem Wandmosaik. Zwischen den Säulen
sieht man die Autos vorbeirauschen, es ist zugig, vor den Zelten hat
sich eine Pfütze gesammelt. Aber immerhin: Der Vorbau des
Ausstellungshauses ist überdacht, der Weg zur Innenstadt kurz und die
Passanten bleiben auf Distanz. Dorothea weiß, dass es schlechtere Orte
gibt. Sie hat mal vor einem Supermarkt in der Nähe des Marienhospitals
übernachtet, erzählt sie. Zum Glück habe ihr Begleiter rechtzeitig den
Brand gerochen. Jemand hatte ihre Decke angezündet. „Ich war zu
betrunken, ich hätte das nicht bemerkt“, erzählt Dorothea, die ihr
Gesicht aus Rücksicht auf ihre Familie nicht zeigen will.
Die
Gruppe wird nicht bleiben können. Das Ordnungsamt war eben da und hat
daran erinnert, dass die Obdachlosen das Lager auflösen sollen. Die
Stadtspitze hat entschieden, dass einige der bekanntesten Platten nicht
mehr geduldet werden: vor dem Ratinger Tor, neben dem Kom(m)ödchen und
am NRW-Forum sollen die Wohnungslosen verschwinden. Anwohner haben sich
beschwert. Dazu kommt, dass das NRW-Forum denkmalgeschützt ist. Die
Frist ist längst abgelaufen, offenbar hat man mit der Räumung über die
Weihnachtstage gewartet.
Fabian Hartmann berichtet Dorothea und
ihren Begleitern von der neuen Unterkunft neben dem Hauptbahnhof, zu
der sie heute Abend gehen könnten. Die Stadtverwaltung rühmt sich, dass
die Notschlafstelle die Lage verbessere. Es gibt extra Zimmer für
Frauen, sogar für Paare und für Menschen mit Hund. Dorothea hört zu. Sie
wirkt nicht, als würde sie hingehen.
Der Umgang mit Obdachlosen hat im
letzten Jahr immer wieder die Schlagzeilen in Düsseldorf beherrscht. Die
Ämter verkünden, dass die Betreuung immer besser werde, insbesondere
durch die Unterkunft an der Graf-Adolf-Straße. Die bekannteste
Hilfsorganisation Fiftyfifty sieht die Lage anders: Sie wittert
zunehmende Vertreibung. Fiftyfifty hat Alarm geschlagen, als das
NRW-Forum vor rund einem Jahr zum ersten Mal geräumt werden sollte. Das
Hilfswerk, das sich als laute Lobby versteht, hat Protest organisiert,
als Obdachlose im Sommer unter der Rheinkniebrücke vertrieben werden
sollten – indem Steine ausgelegt wurden. Die Steine sind nach
öffentlicher Empörung wieder weg. Jetzt kritisiert Fiftyfifty die
erneute Ankündigung der Räumung. Dass die bekannten Platten geräumt
werden sollen, sorgt auch unter den Obdachlosen für Unruhe.
Fabian Hartmann setzt seine Runde in
Richtung Altstadt fort. Der Sozialpädagoge vom Hilfswerk Franzfreunde
braucht gutes Schuhwerk. Er klappert die Plätze ab, an denen Obdachlose
den Tag verbringen. Er berät über Schlafplätze oder medizinische Hilfe,
unterstützt bei Amtsfragen – und hört oft einfach zu. „Lässt du uns denn
nie in Ruhe“, ruft ihm ein Mann hinterher, der in einem Hauseingang
sitzt und Dosenbier trinkt. Er lacht dabei.
Es gibt keine gesicherte Zahl, wie
viele Menschen in Düsseldorf auf der Straße leben. Die Stadt geht von
400 Personen aus. Noch vager sind die Informationen über die Menschen.
Fest steht, dass viele Ausländer aus östlichen EU-Ländern dabei sind,
Szenekenner schätzen ihren Anteil auf fast die Hälfte. Viele sind zum
Arbeiten gekommen – und fallen schnell tief, wenn es nicht läuft: Sie
haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen, nicht mal auf
Notschlafplätze. Es gibt inzwischen spezielle Angebote.
Die
Stadt verkündet immer wieder, dass niemand auf der Straße schlafen
müsse. Trotzdem tun das Menschen. Streetworker Hartmann kennt
Obdachlose, die einen Deal mit Restaurantbesitzern haben: Sie dürfen im
Eingang übernachten, wenn sie morgens weg sind. Andere verstecken sich
im Park. Manche machen Platte, richten sich also an einem Ort ein, wie
Dorothea und ihre Begleiter. Die meisten wollen in der Innenstadt
bleiben. Dort kann man betteln, Straßenzeitung verkaufen – und gehört
vielleicht etwas mehr dazu. Hartmann kennt Fälle, bei denen Menschen den
Absprung in eine Wohnung schaffen. Bei anderen klappt das nicht.
Der Leiter des Geschäftsbereichs
Wohnungslosenhilfe bei den Franzfreunden, Jürgen Plitt, sieht
individuelle Gründe, warum Obdachlose auf der Straße bleiben. Dazu
zählen psychische Krankheiten, aber auch schlechte Erfahrungen mit
Schlafstellen. „Die Gesellschaft muss Wohnungslose aushalten, auch auf
der Straße“, meint er. Plitt sieht die Lage aber positiver als
Fiftyfifty. „Ich finde, dass das in Düsseldorf insgesamt gut gelingt.“
Das Ziel von Streetwork sei, auf der Straße zu helfen. „Wir müssen die
Wohnungslosen einladen, auch damit sie Vorurteile über die Schlafstellen
abbauen.“
Neben dem früheren
Finanzamt an der Kaiserstraße bemerkt Fabian Hartmann ein schwarzes
Bündel auf der Straße, daneben ein paar weiße Säcke. An der Wand liegt
eine Krücke. Als er das Bündel anspricht, kommt ein bärtiges Gesicht zum
Vorschein, später richtet der Mann sich auf. Dabei verzieht er das
Gesicht vor Schmerz.
Aljoscha,
so nennt er sich, spricht klar und gewählt – was man angesichts der
Tatsache, dass er den Tag in einem Schlafsack auf dem Boden verbringt,
nicht erwartet hätte. Er sei 1973 „in Düsseldorf inkarniert“ worden,
erzählt er. Seit Februar lebe er wieder draußen. Der Eigentümer der
Wohnung habe Eigenbedarf angemeldet. Aljoscha beklagt, man vertreibe ihn
sogar von Bänken im Hofgarten. Sein Fuß ist gebrochen. Er fürchtet die
OP. Den Schlafplatz neben dem Finanzamt findet er in Ordnung, auch wenn
man natürlich nie wisse, was passiert, wenn Betrunkene aus der Altstadt
vorbeikommen. Sorgen macht ihm, dass das Amt ausgezogen ist. Das Gebäude
könnte abgerissen werden.
Fabian Hartmann gibt
ihm seine Visitenkarte, nicht zum ersten Mal. Er erklärt Aljoscha, dass
der Weg zur Notschlafstelle der Franzfreunde an der Kaiserswerther
Straße nicht weit ist. Dort gäbe es nachts ein warmes Bett. Aljoscha
steckt die Karte ein, der Streetworker verabschiedet sich. Bis jetzt hat
es Aljoscha nicht in die Schlafstelle geschafft.