Hartz-IV-Sanktionen: „Kultur des Misstrauens“
Mehrere Verbände fordern die Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen. Eine Studie zeigt, dass sie wenig Wirkung haben.
Die Sanktionen gegen Empfängerinnen und Empfänger von Hartz IV verursachen
„eine Kultur des Misstrauens“, beklagt Helena Steinhaus. „Die Menschen
fühlen sich eingeschüchtert und stigmatisiert.“ Diese Erfahrungen sieht
die Gründerin von „Sanktionsfrei e.V.“ durch eine aktuelle Studie
bestätigt, die ihr Verein am Montag in Berlin veröffentlichte. Der Bezug
von Hartz-IV-Leistungen habe Einfluss auf das Wohlbefinden. „Das System
Hartz IV beeinträchtigt die psychosoziale Situation, unabhängig von
Sanktionen und ihrem Ausgleich“, stellte das Forschungsteam fest.
Das Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (INES)
sollte herausfinden, wie sich das Leben für Menschen ändert, die eine
Art Versicherung gegen Sanktionen der Jobcenter haben. Bei der
„Hartz-Plus-Studie“ wurden ihnen drei Jahre lang die Kosten von
Sanktionen erstattet. In einer Kontrollgruppe wurden Menschen begleitet,
die keine Erstattung erhielten. Insgesamt nahmen über 500 Bezieherinnen
und Bezieher von Hartz IV teil.
Trotz der Quasiversicherung hielten sich die Betroffenen zum größten Teil an
die Auflagen der Jobcenter. Der Anteil sanktionierter Personen lag bei
den Menschen mit der Versicherung zwischen zwölf und 14 Prozent, bei den
anderen zwischen sieben und zwölf Prozent. Die versprochene Erstattung
des Geldes habe insofern „nicht dazu geführt, Sanktionen nicht ernst zu
nehmen oder diese gar bewusst in Kauf zu nehmen“, folgert die
Forschungsgruppe.
Psychische Entlastung
Doch die Unterstützung entlastete Betroffene psychisch. So berichtete eine
42-jährige Teilnehmerin, die bisher noch nie sanktioniert worden ist,
dass sie sich gegenüber dem Jobcenter deutlich emanzipierter und
autonomer fühle als vor der Studie. Sie wird mit den Worten zitiert:
„Und was ich ganz toll fand an der Studie, das find ich wirklich sehr
bemerkenswert, so als Gefühl: Ich hatte überhaupt gar keine Sorge,
jemals Sanktionen zu bekommen.“
Statistisch allerdings zeigten sich in der Vergleichsstudie kaum Unterschiede in
der psychischen Belastung zwischen der Gruppe, die Sanktionen selbst
bezahlen musste, und den anderen, die sie ersetzt bekamen. „Der
finanzielle Ausgleich im Fall von Sanktionen führt also nicht
unmittelbar zu mehr Handlungsfreiheit oder einer statistisch
signifikanten Verbesserung der Lebenssituation“, heißt es in der
Expertise.
Anders als bei den Sanktionen macht es allerdings einen großen Unterschied, ob
die Betroffenen sich gerade im Hartz-IV-Bezug befinden oder
rausgekommen sind – denn auch diese Fälle gab es bei den Teilnehmenden
in der Studie.
Der Verein „Sanktionsfrei“ nutzte die Vorstellung der Studie, um mit dem
Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) „eine umfassende Reform der Grundsicherung“
zu fordern, zu der auch „zwingend eine substantielle, bedarfsgerechte
Anhebung der Regelsätze“ gehöre. Die bisher vorgestellten Pläne der
Ampel-Koalition für ein Bürgergeld seien unzureichend, lautete die
gemeinsame Kritik.
Im nächsten Jahr soll ein Bürgergeld an die Stelle von Hartz IV treten.
Die Bundesregierung will den Gesetzentwurf am Mittwoch beschließen.
Vorgesehen ist eine Anhebung des Regelsatzes um 53 auf 502 Euro. Das
reicht nach Ansicht von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des
Paritätischen Gesamtverbands, und DIW-Präsident Marcel Fratzscher nicht
aus. „Die Leistungen für die Grundsicherung sind angesichts hoher
Preissteigerungen, beispielsweise bei Lebensmitteln von fast 20 Prozent,
zu gering“, betonte Fratzscher.
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