Wir bauen am Bedarf vorbei

 

Mittwoch, 05. April 2023, Deutschland / Wirtschaft
„Wir bauen am Bedarf vorbei“
Der Mathematiker Andreas Beck über falsche Anreize in der Wohnungspolitik, alternde Babyboomer in großen Häusern und die Vision von entvölkerten Landstrichen Ein Interview von Andreas Höß
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Die Kinder sind ausgezogen und zurück bleiben die Eltern – in einer großen Wohnung oder einem leeren Haus. Imago Images

Rasant steigende Mieten, immer noch hohe Immobilienpreise und in Metropolen weiter starker Zuzug: Wer in München, Frankfurt oder Berlin eine größere Wohnung oder ein Haus für sich und seine Familie sucht, kann schnell verzweifeln. Doch wie nimmt man hier den Druck vom Kessel? Bauen, bauen, bauen, wiederholen Wirtschaft und Politik fast mantrahaft. Völlig falscher Ansatz, widerspricht der Risikoexperte und Mathematiker Andreas Beck von Index Capital, der den Immobilienmarkt für seine Kundschaft aus der Finanzbranche seit vielen Jahren beobachtet.

Herr Beck, der Bund will jedes Jahr 400 000 neue Wohnungen bauen – und scheitert bisher daran. Ist es das Ziel zu erreichen?

Nein, dafür haben wir zu viel Bürokratie, zu viele Bauvorschriften, zu wenig Fachkräfte und zu wenig Baumaterialien. Dass das Bauziel verfehlt wird, ist aber nicht schlimm. Denn es wird ohnehin komplett am Bedarf vorbeigebaut.

Wieso das?

Deutschland hat kein Wohnraumproblem und erst recht keine Wohnungsnot. Es ist nicht so, dass hier Millionen Menschen auf der Straße sitzen würden.

Aber in München oder Frankfurt ist der Druck am Immobilienmarkt riesig.

Wenn in neuen Vierteln wie Freiham 25 000 neue Wohnungen in gesichtslosen Betonblocks aus dem Boden gestampft werden, ziehen dort fast nur Menschen ein, die woanders weggezogen sind. Das ist das eine Problem, das Umzugsproblem. Das andere ist, dass wir pro Person immer mehr Wohnfläche verbrauchen. 1972 waren wir bei 26 Quadratmetern, 2002 bei 40 Quadratmetern und 2022 bei 47 Quadratmetern. Das ist fast eine Verdopplung. Da von einer Wohnungsnot zu sprechen, ist absurd.

Woran liegt das? An der steigenden Zahl junger Singlehaushalte?

Falsch. Die Flächenexplosion liegt an einem Problem, das jeder zweite Ihrer Leser aus eigener Anschauung kennt: dem Remanenzeffekt. Im Idealfall läuft das Leben ja so: Man gründet eine Familie, verschuldet sich, baut ein Haus oder kauft eine Wohnung. Irgendwann sind die Kinder erwachsen, typischerweise ziehen sie dann aus. Die Eltern bleiben aber in ihrem Haus wohnen, das dann viel zu groß für sie ist. Bei mir ist das genau so. Ich bin Jahrgang 1965, gehöre also zu den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer und wohne mit meiner Frau weiter in unserem Haus im Münchner Süden, obwohl die Kinder längst weg sind.

Das ist jetzt Ihre persönliche Situation.

Und die von Millionen weiteren Babyboomern. Schauen sie sich die einstigen Neubaugebiete in Solln, Germering, Freising oder im Umfeld anderer Metropolen wie Frankfurt an: Überall das gleiche Bild. Dort wohnen ältere Menschen, während ihre Kinder verzweifelt nach Immobilien suchen und sich über beide Ohren verschulden.

Das ist der Grund für die Wohnraumknappheit?

Ja. Wenn Kinder ausziehen, steigt der Wohnraumverbrauch der Eltern auf einen Schlag im Schnitt auf 78 Quadratmeter pro Person. Das ist ein Problem, denn die Babyboomer stellen ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland. Deshalb haben wir so viel Druck auf dem Immobilienmarkt und massiv steigende Preise in den Metropolen.

Bauen lindert diesen Druck aber etwas, oder?

Ich will meiner Generation nicht zu nahe treten, aber auch wir leben nicht ewig. Bauen wir heute 400 000 neue Wohnungen pro Jahr, dann stehen die eben in 20 oder 30 Jahren alle leer. Das fängt jetzt schon an und hat mit dem demografischen Knick durch die gesellschaftliche Alterung zu tun. Durch Migration lässt sich das gar nicht ausgleichen. Es gibt aber eine andere Lösung.

Welche denn?

Schaffen wir es, den Wohnraum lediglich von heute 47 auf 40 Quadratmeter pro Person zu reduzieren, wäre das vergleichbar mit sechs Millionen neuen 80-Quadratmeter-Wohnungen. Da ist das Bauziel von 400 000 Wohnungen pro Jahr ein Witz dagegen.

Umziehen wollen viele ältere Menschen nicht.

Das ist gut erforscht. Die Menschen wollen zwar in ihrem Umfeld bleiben, weil sie sich dort auskennen und Freunde haben, aber nicht zwingend in ihrer Immobilie. Denn ein großes Haus wird im Alter immer mehr vom Luxus zur Last. Man muss es putzen, den Garten pflegen, Schnee schaufeln und so weiter. Und es kostet viel Geld, weil man es erhalten und komplett heizen muss, damit leerstehende Räume nicht schimmeln. Hinzu kommt noch eine andere Sache.

Welche denn?

Die energetische Sanierung, die wir brauchen, um die Klimaziele zu erreichen. Mit der von Wirtschaftsminister Robert Habeck angestoßenen Diskussion um den Austausch alter Öl- und Gasheizungen ist das erste Mal an die Oberfläche gekommen, was das für ein Herkulesakt wird. Schon wegen dem Fachkräftemangel wird man nicht Hunderttausende Wohnungen pro Jahr neu bauen und gleichzeitig Millionen Häuser komplett sanieren können. Da gibt es einen Zielkonflikt wischen Wirtschafts- und Bauministerium, obwohl die Lösung eigentlich naheliegt.

Wie sieht die aus?

Wir sanieren die Bestandsimmobilien energetisch und machen sie bei dieser Gelegenheit gleich altersgerecht und teilen sie in mehrere Wohnungen. Dafür bräuchte es nicht einmal große Zuschüsse, weil dadurch die Grundstückswerte steigen und durch die Vermietung Einnahmen entstehen würden. Doch auch hier gibt es Fehlanreize und Hürden.

Das Baurecht zum Beispiel.

Ja, die Grundstücke sind in den Bebauungsplänen meist als Einfamilienhäuser eingetragen, hier müsste man Mehrfamilienhäuser zulassen. Und erbrechtlich ist es bisher so, dass ältere Menschen bis zum Schluss in ihrer Immobilie wohnen müssen und auch nicht untervermieten dürfen, damit keine Erbschaftsteuer fällig wird. Außerdem müssen die Kinder dann nach dem Tod der Eltern direkt einziehen. Das führt zur kuriosen Situation, dass Erben manchmal vorgeben, in München zu wohnen, obwohl sie in Frankfurt oder Berlin arbeiten. In der Realität lässt man die Häuser einfach leerstehen, statt sie zu nutzen oder zu vermieten, um Steuern zu vermeiden.

Senioren sollten also kleiner wohnen. Haben Sie keine Angst, dass bei älteren Menschen das Gefühl entsteht, dass man ihnen ihr Haus nehmen will?

Darum geht es doch gar nicht. Im Idealfall hilft es allen, wenn Häuser über einen Lebenszyklus sinnvoller genutzt werden – den Älteren, die sich nicht mehr um ein riesiges Haus kümmern müssen, und den Jüngeren, die dann mehr Wohnraum zur Verfügung haben. Es soll auch niemand zum Umzug gezwungen werden. Man muss nur die Fehlanreize abbauen, die im Moment dafür sorgen, dass ein Umzug oder das Untervermieten keine Option sind. Denn sie fördern Wohnraumknappheit. Die Frage ist jetzt, ob die Dinge weiter laufen wie bisher und jeder Deutsche in zehn Jahren 60 Quadratmeter pro Person bewohnt, die beheizt, saniert und instand gehalten werden müssen – oder ob wir uns eingestehen, dass es so nicht weitergeht.

Und was, wenn wir das nicht tun?

Dann haben wir in zwei oder drei Jahrzehnten millionenfach Leerstand und abseits der Metropolen entvölkerte Landstriche. Das ist heute etwa in Japan schon der Fall, dort hat der demografische Knick schon früher eingesetzt. Für Immobilienbesitzer wären das übrigens keine guten Aussichten. Denn was das mit den Immobilienpreisen machen würde, die die Bundesbank schon heute für 40 Prozent zu hoch hält, kann man sich leicht ausrechnen.

Zur Person

Andreas Beck ist Risikoexperte und Mathematiker. Er ist Geschäftsführer beim Finanzinstitut Index Capital. Zuvor war er bei Münchener Rück, Tetralog Systems und gründete das Institut für Vermögensaufbau (IVA). FR/Bild: privat

FR 5.4.2023