2018 rund 15,3 Millionen Menschen und damit 18,7 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht

Aus: Ausgabe vom 31.10.2019, Seite 1 / Titel
Armut

Sollen sie doch Kuchen essen

Mehr als 15 Millionen Menschen in der BRD von Armut gefährdet. Bundesregierung empfiehlt Vermögensbildung durch Wohneigentum
Von Simon Zeise

Armut nervt die Herrschenden nur. Die Deutsche Presseagentur
kündigte am Mittwoch an, eine ausführliche Berichterstattung zu den
Daten des Statistischen Bundesamt entfalle »mangels Nachrichtenwerts«.
Und die Behörde in Wiesbaden teilte mit: »Anteil der von Armut und
sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen in Deutschland stabil« – auch
eine Sicht auf den Umstand, dass hierzulande 2018 rund 15,3 Millionen
Menschen und damit 18,7 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht waren.

Eine Person gilt laut EU-Definition als armutsgefährdet, wenn sie über
weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung
verfügt. 2018 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in
der BRD bei 1.136 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern
unter 14 Jahren bei 2.385 Euro im Monat. 3,1 Prozent der Bevölkerung
waren nicht in der Lage, ihre Rechnungen für Miete, Hypotheken oder
Versorgungsleistungen zu bezahlen, ihre Wohnungen angemessen zu beheizen
oder eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren.

 

Joachim Rock, Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales, Europa beim Paritätischen Gesamtverband, sagte am Mittwoch gegenüber jW,
die EU habe mit ihrer »Europa 2020«-Strategie unter anderem gefordert,
die Zahl der in Europa von Armut und Ausgrenzung bedrohten Menschen
gegenüber 2008, als 115,7 Millionen Menschen betroffen waren, um
mindestens 20 Millionen Menschen zu verringern. Nach den neuesten Zahlen
seien in Europa im Jahr 2018 immer noch etwa 109 Millionen Menschen
betroffen. »Es ist deshalb schon jetzt absehbar, dass die EU gerade mit
dem wichtigen Ziel der Armutsbekämpfung deutlich scheitern wird, trotz
guter Wirtschaftslage.« Alarmierend sei zudem, dass die Kinderarmut in
Europa auf hohem Niveau bei fast 24 Prozent verharre.

Die Lage dürfte sich hierzulande in den nächsten Monaten
verschlimmern, denn der von der Bundesregierung viel beschworene
»Jobboom« wird wohl angesichts der sich anbahnenden Rezession ein jähes
Ende finden. Einen Vorgeschmack hinterließ die Bundesagentur für Arbeit
(BA) am Mittwoch mit der Präsentation der monatlichen
Arbeitsmarktstatistik. »Die aktuelle konjunkturelle Schwäche hinterlässt
durchaus ihre Spuren am Arbeitsmarkt«, sagte BA-Chef Detlef Scheele in
Nürnberg. Im Vergleich zum September sei die Erwerbslosenzahl zwar um
30.000 zurückgegangen. Üblich sei für den Oktober jahreszeitlich bedingt
allerdings eine Abnahme um etwa 60.000. Saisonbereinigt sei die
Arbeitslosenzahl im Vergleich zum September sogar um 6.000 Personen
gestiegen. Fein säuberlich rausgerechnet wurden die rund 905.000 de
facto erwerbslosen Menschen, die entweder am Tag der Erfassung
krankgeschrieben waren, an sogenannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
von Jobcentern teilnahmen oder älter als 58 Jahre alt waren und in den
zurückliegenden zwölf Monaten kein Jobangebot erhalten hatten.

Das Leid der einen ist das Glück der anderen. Wie die Bundesbank am 11.
Oktober mitgeteilt hatte, ist das Privatvermögen in der BRD allein im
letzten Quartal um 95 Milliarden Euro auf 6,237 Billionen Euro
gestiegen. Ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums sagte am Mittwoch
gegenüber jW, ein direkter Zusammenhang zwischen der
Verbreitung von relativer Einkommensarmut und Vermögenskonzentration
könne aber »kaum fundiert hergestellt werden«. Ein Grund sei die
»niedrige Wohneigentümerquote, die in Europa der wesentliche
Vermögensbestandteil der privaten Haushalte ist« – wer arm ist, soll
sich eine Wohnung kaufen. Frei nach Marie Antoinette: Wenn sie kein Brot
haben, sollen sie doch Kuchen essen.

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