Bündnis kritisiert Regelsätze

 

Pressemitteilung v. 24.11.2020

Bleiben Sie standhaft, Herr Laschet!

Der Bundesrat hatte deutlichen Ärger erkennen lassen, als ihm im Oktober (2020) erstmals der Gesetz­entwurf der Bundesregierung für ein neues Regelbedarfsermittlungsgesetz vorgelegt wurde. Von all seinen früheren Vorschlägen zur Verbesserung der Methodik und für eine größere Wirklichkeitsnähe einzelner Ausgabepositionen sei in dem neuen Gesetz kaum etwas berücksichtigt.

Die Konferenz der Sozialminister der Länder hatte deshalb dem Bundesrat einstimmig empfohlen, von der Regierung eine ganze Reihe von Nachbesserungen im Zuge der anstehenden Beratungen zu verlangen. Außerdem müsse das Bundesarbeitsministerium per Beschluss dazu bewegt werden, bis zum Sommer 2022 weitergehende Lösungsansätze für besonders problematische Aspekte, insbesondere eine vernünftige Fassung der Kinderbedarfe, zu entwickeln und vorzutragen. So wurde es auch vom Bundesrat beschlossen.1Mittlerweile sind wir 6 Wochen weiter, und im Bundestag ist der Gesetzentwurf bereits durch. Abgesehen voneiner Aktualisierung der Leistungssätze anhand der jüngsten Lohn- und Preisentwicklung sowie einer Aufblähung des Gesetzes um zahlreiche weitere Artikel, mit Regelungen zu gänzlich anderen Sachverhalten,ist der Wortlaut in den hier interessierenden Passagen (Artikel 1-3) jedoch der alte geblieben.

Obwohl die Kritik des Bundesrats von sämtlichen Wohlfahrts- und Sozialverbänden geteilt wird2, hat die Regierung komplett auf stur geschaltet. Es bleibt bei den Fehlern und Schwächen der bisherigen Regelsatz­berechnung. Angefangen bei der Definition der Referenzgruppen über den Einbezug verdeckter Armut in die Statistik bis hin zur realitätsfremden Behandlung bestimmter Ausgaben wie langlebige Gebrauchsgüter, Gesundheitskosten oder Energiekosten. Besonders ins Gewicht fallen erneut die vielen willkürlichen Kürzungen, die sich nach Berechnungen des Paritätischen auf 160 Euro im Monat summieren und damit die Regelsätze gewaltig nach unten drücken.

Die spannende Frage ist jetzt: Wie reagiert der Bundesrat auf die Blockade? Nimmt er den Fehde­handschuh auf und verweigert seine Zustimmung oder lässt er das Vorhaben am Ende womöglich doch ohne Änderungen passieren? (Das Gesetz bedarf der Zustimmung der Länder, sonst kommt es nicht zustande. Und die betreffende Sitzung ist bereits diesen Freitag, am 27.11.).

Wir hoffen sehr, dass der Bundesrat bei seiner kritischen Haltungzu der Vorlage bleibt und den Vermittlungs­ausschuss anruft. Auch, wenn das bedeuten sollte, dass die geplante Anhebung der Regelsätze nach SGB II, SGB XII und AsylBlG zum nächsten 1. Januar zunächst verschoben oder diese – ersatzweise – auf Grundlage des alten Bedarfsermittlungsgesetzes bestimmt werden müssten.

Das Sozialticket-Bündnis von NRW hat deshalb letzte Woche den Ministerpräsidenten und die zustän­digen Fachminister von NRW angeschrieben, um sie zum Durchhalten zu bewegen. Die Mängel der Vorlage seien bekannt – und nicht behoben.Der Brief schließt mit den Worten:„Sorgen Sie zusammen mit den Vertreter*innen der anderen Bundes­länder dafür, dass die die Regelbedarfsermittlung betreffenden Artikel 1-3 des vorliegenden Gesetzentwurfs3am 27.11. vom Bundesrat abgelehnt werden.“

Anlage: Brief des Bündnisses an Ministerpräsident Laschet und die zuständigen Fachminister in NRW

1s. Bundesrats-Drucks. 486/20 (B) v. 9. Oktober 2020

2s. beispielsweise die Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes v. 21.7.2020, im Netz unter https://www.der-paritaetische.de/fachinfo/stellungnahmen-und-positionen/...entwurf-eines-regelbedarfsermittlungsgesetzes-2021

3s. Bundesrats-Drucks. 654/20 in Verbindung mit den Bundestags-Drucksachen 19/22750 u. 19/23549

 

 

 

 

 

Ansprechpartner:
Heiko Holtgrave
Sozialforum Dortmund
Huckarder Str. 10-12
44147 Dortmund

An
Herrn Ministerpräsident Laschet
Herrn Minister Laumann
Herrn Minister Dr. Stamp

17.11.2020
cc an den Verkehrsminister Herrn Wüst
und Herrn Dr. Stephan Holthoff-Pförtner
(per Brief, vorab per Mail)

17.11.2020

Entwurf Regelbedarfsermittlungsgesetz; anstehende Entscheidung im Bundesrat
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,
sehr geehrter Herr Minister Laumann,
sehr geehrter Herr Minister Dr. Stamp,
bei der Sitzung am 27. November wird dem Bundesrat der vom Bundestag bereits in 2. und 3. Lesung verabschiedete Entwurf für ein neues Regelbedarfsermittlungsgesetz zur Zustimmung vorliegen (Bundesrats-Drucks. 654/20). Die darin enthaltenen neuen Regelsätze werden die materielle Situation und die Teilhabechancen von Millionen von Menschen in den kommenden Jahren bestimmen.
Wir hoffen sehr, dass der Bundesrat – auch das Land NRW - bei seiner kritischen Haltung zu Methoden und Ergebnissen der Bedarfsermittlung auf Grundlage der EVS bleibt und den Vermittlungsausschuss anruft. Auch, wenn das bedeuten sollte, dass die geplante Anhebung der Regelsätze nach SGB II, SGB XII und AsylBlG zum nächsten 1. Januar zunächst verschoben oder diese – ersatzweise – auf Grundlage des alten Bedarfsermittlungsgesetzes bestimmt werden müssten.
Die Bundesregierung - genauer: der Bundesarbeitsminister - hat schlicht ihre Hausaufgaben nicht gemacht und sich von der vom Bundesrat vorgetragenen dezidierten Kritik gänzlich unbeeindruckt gezeigt. Ihre Erwiderung in Bundestags-Drucksache 19/34549 lässt keine ernsthafte Bereitschaft erkennen, auf die Länderkammer zuzugehen.
Abgesehen von den Anpassungen, die im Zuge der Aktualisierung anhand der jüngsten Preis- und Lohnentwicklung vorgenommen wurden, und der Hinzufügung weiterer Artikel bleibt der Wortlaut des Gesetzes in den hier interessierenden Artikeln 1, 2 und 3 der alte. Die Summe der Streichungen einzelner Ausgabepositionen widerspricht dem Statistikmodell und stellt die Ermittlung der Regelsätze insgesamt in Frage. Will man die seit Jahren zu beobachtende Unterdeckung existentieller Bedarfe in der Bemessung von Sozialleistungen beenden, kann man diesen Entwurf nur ablehnen. Dazu fordern wir die Vertreter unserer Landesregierung im Bundesrat ausdrücklich auf.
Wir teilen zusammen mit Wohlfahrts- und Sozialverbänden die fundierte Kritik der Länderkammer an dem Gesetzesentwurf der Regierung. Und wir möchten noch einen weiteren Aspekt hinzufügen,
der uns als Bündnis besonders beschäftigt: die völlig unzureichenden Mittel für Mobilitätsbedürfnisse. Auch diese Position ist, darauf haben wir seit Jahren auch in Gesprächen mit dem NRW-Verkehrsministerium hingewiesen, chronisch unterfinanziert. Nach vorliegendem Gesetzentwurf soll einem alleinstehenden Erwachsenen im kommenden Jahr dafür 40,01 € im Monat zur Verfügung stehen, allen übrigen Personengruppen sogar noch deutlich weniger. Dies hat mit der realen Preisentwicklung auf dem Sektor Verkehr herzlich wenig zu tun.
Es ist schon erstaunlich, wie das BMAS die empirisch ermittelten, ohnehin nicht gerade üppigen Ausgaben unterer Einkommensgruppen für die Nutzung von „fremden Verkehrsdienstleistungen“ (Bus und Bahn) in Höhe von durchschnittlich 47,01 € in mehreren Rechenschritten auf angeblich benötigte 35,16 € herunterrechnet (s. Begründung zum ursprünglichen Gesetzentwurf, Bundestags-Drucksache 19/22750 v. 23.9.2020, S. 27f). Wir möchten nur daran erinnern, dass man in den großen Verkehrsverbünden NRWs allein für ein Sozialticket - das nur zu Fahrten innerhalb des eigenen Kreises bzw. der eigenen (kreisfreien) Stadt berechtigt - aktuell schon 39,35 bzw. 41,40 € pro Monat entrichten muss. Es würde also dabei bleiben, dass sich ein Hartz IV-Empfänger ohne Einschränkungen an anderer Stelle nicht einmal ein Sozialticket leisten könnte.
KFZ-bezogene Ausgaben der im Rahmen der EVS befragten Haushalte werden von der Bundesregierung gleich ganz als nicht-regelsatzrelevant ausgeklammert, die Gesamthöhe um den entsprechenden Betrag reduziert. Auch das ist lebensfremd, denn es verkennt, dass in ländlichen Regionen die Bedienung mit öffentlichen Verkehrsmitteln oftmals so unzulänglich ist, dass dort lebende Bedarfsgemeinschaften ohne einen PKW oder ein anderes Kraftfahrzeug kaum auskommen. Man sollte eigentlich davon ausgehen, dass der Bundesregierung dieser Umstand bekannt ist. Zumal auch das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber mehrfach gemahnt hat, dass er auch unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten gerecht werden muss und bei der Leistungsbemessung sicherzustellen hat, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf in jedem Fall gedeckt werden kann. Wenn der Gesetzgeber Kraftfahrzeuge generell ausschließen wolle, was verfassungsrechtlich nicht grundsätzlich zu beanstanden sei, müsse er aber berücksichtigen, dass dem Hilfsbedürftigen dadurch im Einzelfall zwangsläufig höhere Ausgaben für öffentliche oder andere Verkehrsmittel entstehen (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 - , Rn. 114; s. auch dort, Rn. 145).
Aus unserer Sicht sind dies weitere Gründe, den Gesetzentwurf der Regierung abzulehnen. Bundesländer und Wohlfahrtsverbände haben in der Vergangenheit wiederholt auf die methodischen Unzulänglichkeiten bei der Bedarfsermittlung hingewiesen und Alternativen vorgeschlagen. Die Bundesregierung hingegen schaltet auf stur und möchte eine breitere Diskussion über die Eignung der Methodik und die Höhe der daraus resultierenden Sätze offenkundig vermeiden. Die bisherigen Fehler und Schwächen der Bedarfsermittlung werden mit dem Entwurf fort- und festgeschrieben.
Bleiben Sie also standhaft! Sorgen Sie zusammen mit den Vertreter*innen der anderen Bundesländer dafür, dass die die Regelbedarfsermittlung betreffenden Artikel 1-3 des vorliegenden Gesetzentwurfs (Drucks. 654/20) am 27.11. vom Bundesrat abgelehnt werden.

Mit freundlichen Grüßen
für das Bündnis Sozialticket NRW
Klaus Kubernus, attac Niederrhein
Michaela Hofmann, Armutsexpertin für den Diözesan-Caritasverband Köln #dadrücktderschuh
Heiko Holtgrave, Sozialforum Dortmund