Jedes fünfte Kind lebt in Armut
„Armut im reichen Deutschland ist und bleibt ein Skandal“,
sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Ein Bündnis von DGB und
Sozialverbänden fordert eine Reform der Hartz-IV-Sätze.
Vor 12 Stunden
Jedes fünfte Kind ist in Deutschland von Armut betroffen.
Foto: epd
In dieser Woche hat das Statistische Bundesamt Zahlen zum Ausmaß der Armut in den Bundesländern vorgelegt. Die
Befunde bestätigen einen seit Jahren zu beobachtenden Trend: Trotz
Wirtschaftswachstum und hoher Beschäftigung wächst der Anteil der Armen.
Mittlerweile unterschreitet hierzulande jeder sechste Inländer die
Armutsschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Jedes fünfte
Kind ist von Armut betroffen. In Augen des Deutschen Gewerkschaftsbundes
(DGB) und des Paritätischen Gesamtverbands spiegeln diese Zahlen
unhaltbare Zustände.
„Armut im reichen Deutschland ist und bleibt ein Skandal“,
sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach am Mittwoch in Berlin. Um
Armut wirksam bekämpfen zu können, sind nach Ansicht der beiden
Dachorganisationen vor allem deutlich höhere Hartz-IV-Regelsätze
notwendig. Bisher würden die Leistungen „künstlich heruntergerechnet“,
sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes.
Die Ermittlung der Regelsätze nannte Schneider einen „Akt
tiefer Willkür“ und daher grundlegend reformbedürftig. Hieraus leitet
das „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“, zu dem sich DGB,
Gesamtverband und 19 weitere Wohlfahrtsverbände zusammengeschlossen
haben, vier zentrale Forderungen ab.
Neu rechnen
Derzeit erhalten Alleinstehende und Alleinerziehende 409
Euro monatlich. Für Partner und andere volljährige Haushaltsangehörige
gibt es 368 und 327 Euro, für Kinder je nach Alter zwischen 237 und 311
Euro. Dass diese Leistungen nicht ausreichen, verdeutlicht der DGB an
Beispielen: Für zehnjährige Kinder seien im Regelsatz 2,72 Euro pro
Monat für Bücher vorgesehen. Um sich ein Buch aus der
Pippi-Langstrumpf-Liga kaufen zu können, müsse der Betrag über fünf
Monate angespart werden. Zweites Beispiel: Für Schuhe, vom Flip-Flop bis
zum Winterstiefel, stehen Jugendlichen ab 14 Jahren ganze 62 Euro pro
Jahr zur Verfügung. Von der „Wohlstandsnormalität in der Mitte der
Gesellschaft“ seien diese Menschen „weit abgehängt“, so Buntenbach.
Die Berechnung der Regelsätze dürfe sich daher nicht mehr an
den untersten 20 Prozent der Haushaltseinkommen orientieren. Notwendig
seien Leistungen, die sich am tatsächlichen Bedarf der Menschen
bemessen, „die es ermöglichen mitzumachen“, sagte Schneider. Zur Höhe
bedarfsgerechter Regelsätze, die für sechs Millionen Hartz-IV-Empfänger,
für eine Million Menschen mit Grundsicherung im Alter und 130 000
Sozialhilfeempfänger maßgeblich sind, solle eine neu zu bildende
Sachverständigenkommission aus Wissenschaftlern, Arbeitgebervertretern,
Gewerkschaften und Sozialverbänden Vorschläge entwickeln und der
Bundesregierung empfehlen.
Zusätzliche Leistungen
Für seltene kostspielige Anschaffungen wie etwa den Kauf
einer neuen Waschmaschine sollen Zuschüsse außerhalb der Regelsätze
gewährt werden. Bisher nehmen viele Leistungsbezieher Kredite bei der
Arbeitsverwaltung auf, um die Kosten zu schultern. 2016 wurden von den
Jobcentern pro Monat durchschnittlich 15 000 solcher Darlehen bewilligt,
die im Anschluss abgestottert werden müssen. Die dabei vergebene
Kreditsumme beziffert Schneider mit 43 Millionen Euro. Zudem sollen
kommunale Leistungen wie etwa ein Pass, der zu kostenlosen Zoo-,
Schwimmbad- und Museumsbesuchen berechtigt, allen Bürgern zugänglich
sein. Der Kaufpreis für die Pässe soll nach dem Einkommen gestaffelt
werden und für Hartz-IV-Empfänger und Geringverdiener ganz entfallen.
Ein solches Tarifmodell sei auf andere Bereiche wie den öffentlichen
Nahverkehr übertragbar. Davon würden auch Menschen mit geringen
Arbeitseinkommen profitieren.
Soforthilfe
Verbände und Gewerkschaften rechnen nicht damit, dass diese
Forderungen von der kommenden Bundesregierung rasch umgesetzt werden. In
einer Analyse der Wahlprogramme von Union, SPD, Linken, Grünen und FDP
kommt das Bündnis zu dem Ergebnis, dass allein Grüne und Linke eine
grundlegende Neuberechnung und deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Sätze
anstreben. Die Union wolle alles, die SPD das meiste beim Alten lassen,
die Freidemokraten wollten Leistungen zu einem Bürgergeld
zusammenfassen, ohne dabei mehr Geld auszugeben.
Grundlegende Reformen sind mithin eher nicht in Sicht. Um
zumindest die Situation armer Kinder kurzfristig zu verbessern, fordert
das Bündnis ein Sofortprogramm: Das Mittagessen in Kitas und Schulen
muss für Menschen unterhalb der Armutsschwelle kostenlos sein, der
Ein-Euro-Beitrag soll entfallen. Und das mit 100 Euro pro Jahr dotierte
Bildungspaket müsse zumindest zu Anfang des ersten Schuljahres sowie
beim Übergang auf weiterführende Schulen auf 250 Euro erhöht werden.
Kosten
DGB und Gesamtverband beziffern die zusätzlichen
Staatsausgaben für die beiden Sofortmaßnahmen auf 143 Millionen Euro pro
Jahr. Die Kosten bedarfsgerechter Regelsätze lassen sich naturgemäß
erst abschätzen, wenn deren Höhe feststeht. Es gilt dabei die
Faustformel: Plus zehn Euro mehr Hartz IV kostet pro Jahr 800 Millionen.
Würden die Regelsätze um 30 Prozent angehoben, lägen die zusätzlichen
Ausgaben bereits bei zehn Milliarden Euro. Schneider macht daraus keinen
Hehl: „Da muss man ehrlich sein: Unsere Forderungen kosten einen
zweistelligen Milliardenbetrag. Aber ohne Geld kann man Armut nicht
bekämpfen.“
http://www.fr.de/wirtschaft/armutsbericht-jedes-fuenfte-kind-lebt-in-arm...