15.01.2015 / Inland / Seite 5Inhalt
Aktenmonster Hartz IV
Berliner Sozialgericht kämpft mit Hartz-IV-Klagen. Jeder Zweite bekommt recht
Von Johannes Supe
Über 38.000 Fälle gingen im vergangenen Jahr beim Berliner Sozialgericht ein. Die Aktenberge türmen sich bereits
Foto: Stephanie Pilick/dpa-Bildfunk
Erdrückende Aktenberge trotz eines Rückgangs der Klagen: Am Mittwoch
hielt das Berliner Sozialgericht seine Jahrespressekonferenz ab und
blickte auf eine Dekade Hartz IV zurück. Die Einführung des
Verarmungsgesetzes hat die Sozialgerichtsbarkeit einschneidend
verändert. Erstmals seit 2010 verzeichnete das Amt im vergangenen Jahr
weniger als 40.000 neue Klagen und Eilverfahren. Die größte Zahl der
Beschwerden kommt von Hartz-IV-Beziehern, die um ihre Rechte kämpfen.
»Für die deutschen Sozialgerichte gibt es eine Zeit vor Hartz IV und
eine Zeit nach Hartz IV«, erklärte Sabine Schudoma, Präsidentin des
Sozialgerichts Berlin. Mit dem Inkrafttreten der »Grundsicherung für
Arbeitsuchende« vor zehn Jahren ging auch die Zuständigkeit für die
Sozialhilfe auf die Sozialgerichte über, die zuvor bei den
Verwaltungsgerichten lag. In der Folge sei es zu einer regelrechten
Klageflut gekommen.
Noch im Jahr 2004 trafen bei der Berliner Behörde gut 17.000 neue
Fälle ein. »Es ging überwiegend um die klassischen Themen des
Sozialrechts: um Rente, Schwerbehindertenrecht,
Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung«, so Schudoma. Doch schon
ab 2005 stieg die Zahl der Beschwerden rapide. 2012 erreichte sie ihren
vorläufigen Höhepunkt: Insgesamt 44.301 neue Eingaben musste das
Sozialgericht verzeichnen. Deren erdrückende Masse machten Klagen gegen
Hartz IV aus (siehe Tabelle).
Annähernd 216.000 Hartz-IV-Verfahren wurden am Sozialgericht zwischen
2005 und 2014 geführt. Die Zahl der Beschwerden gegen die
»Grundsicherung« stiegen zunächst derart rasch an, dass nicht nur die
Juristen kaum nachkamen: »Eingebrannt hat sich mir ein Vorfall aus dem
Sommer 2006. Schneller als erwartet, war unser Vorrat an grünen
Aktendeckeln, die wir für diese Fälle verwenden, erschöpft. Die
Druckerei kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher«, erinnerte sich
Schudoma.
Ein bedeutender Teil der Hartz-IV-Fälle sind Eilverfahren, etwa wenn
der Strom abgesperrt zu werden droht, Wohnungskündigungen anstehen oder
das Geld für Lebensmittel knapp wird. Doch auch Beschwerden gegen die
Sanktionspraxis der »Jobcenter« oder bei Streitigkeiten um die
Kostenübernahme für die Wohnung sind ebenso alltäglich wie Klagen gegen
Rückforderungen von »zuviel gezahlten Leistungen«. Bei alledem gilt:
Häufig bekommen die Beschwerdeführer recht. 2014 endeten 49 Prozent der
Verfahren zumindest mit einem Teilerfolg für die Rechtsuchenden.
Im vergangenen Jahr sei nun erstmals wieder die 2010 erreichte
Schwelle von 40.000 neuen Klagen und Eilverfahren unterschritten worden.
So gingen beim Berliner Sozialgericht 38.418 neue Fälle ein. Ursächlich
für die sinkende Zahl der Beschwerden sei der Rückgang im
Hartz-IV-Bereich. Den führt Schudoma auf »erfolgreiches Bemühen der
Jobcenter« zurück, die gesetzlich vorgegebenen Bearbeitungsfristen
tatsächlich auch einzuhalten. Dennoch liegt die Zahl der Hartz-IV-Fälle
mit monatlich je 2.000 weiter hoch. »Das ist die Größenordnung«, so
Schudoma, »auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen«.
Auch haben sich in den vergangenen Jahren enorme Aktenberge
angesammelt. Fast 42.000 unerledigte Verfahren stehen im Berliner
Sozialgericht noch aus. Selbst wenn keinerlei neue Beschwerde hinzukäme,
würde es über ein Jahr dauern, sie abzuarbeiten. Dazu kommt, dass die
durchschnittliche Dauer eines einzelnen Verfahrens auf nunmehr 13,8
Monate gestiegen ist. Die Fälle werden länger und komplexer. Deshalb
sorgt das Amt schon mal vor: In einer neuen Aktenhalle soll Platz für
bis zu zwei Kilometer weiterer Akten geschaffen werden.