Aus: Ausgabe vom 15.10.2015, Seite 5 / Inland
Teilen und herrschen
Bundesfinanzminister Schäuble will Flüchtlingen Hartz IV kürzen,
Jobcenter sanktionieren weiter auf hohem Niveau, viele Jugendliche
landen deshalb auf der Straße
Von Susan Bonath
Foto: AP Photo/Markus Schreiber/dpa/Bildfunk
Die CDU/CSU/SPD-Koalition verschärft ihren Krieg gegen Arme. Die
Sozialleistungen für Asylsuchende auf Hartz-IV-Niveau seien zu hoch. Man
müsse sie auf »Fehlanreize« überprüfen, forderte Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (CDU) am Dienstag auf einem Gipfel der Maschinenbauer
in Berlin. Das war seine Antwort auf SPD-Arbeitsministerin Andrea
Nahles. Die hatte kürzlich davor »gewarnt«, dass durch den Zuwachs an
Flüchtlingen bald rund eine Million Menschen mehr auf Hartz IV
angewiesen seien. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
führte online am Dienstag den Gedanken weiter: »Es wird Kürzungen
geben, nicht nur für Flüchtlinge.« Vorschläge dafür gingen bereits durch
die Medien. Etwa von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn: Weiter rauf mit
dem Renteneintrittsalter, weg mit dem Mindestlohn, verlangte er bereits
vergangene Woche in Springers Welt online.
Ein Teil der Kürzungspolitik wird indes seit fast elf Jahren
umgesetzt: Sanktionen gegen ungehorsame Hartz-IV-Bezieher. Absenkungen
der Auszahlungen unter das gesetzlich festgelegte »menschenwürdige
Existenzminimum« bis auf null trieben Betroffene in extreme physische
Not. Das widerspreche dem Grundgesetz, warnen inzwischen nicht nur
Erwerbslosenvereine und die Linkspartei, sondern immer mehr Juristen,
Gewerkschafter und Sozialverbände. Das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales (BMAS) ficht das nicht an. Obwohl derzeit das
Bundesverfassungsgericht die Sanktionspraxis nach Anrufung des
Sozialgerichts Gotha prüfen muss, bleibt das hohe Haus dabei: Wer sich
nicht penibel an amtliche Auflagen hält, dem wird das Geld gekürzt. Dass
die Jobcenter gehorsam die entsprechenden Paragraphen der
Sozialgesetzbücher (SGB) II und XII umsetzen, zeigt die Statistik der
Bundesagentur für Arbeit (BA).
Die Gesamtzahl der Sanktionen stagniert auf hohem Niveau. Im Zeitraum
vom 1. Juli 2014 bis 30. Juni 2015 kamen die Hartz-IV-Behörden wieder
auf mehr als eine Million »Geldstrafen« bei weiterhin gut 4,4 Millionen
»erwerbsfähigen Leistungsberechtigten« und etwa 1,7 Millionen
betroffenen Kindern. Allein im Juni verhängten Jobcenter 76.227 neue
Kürzungen. Mit 7.031 Betroffenen waren im Juni diesen Jahres 305
Menschen mehr vollständig sanktioniert als im Mai. Davon waren 3.216
älter als 25 Jahre, 378 sogar älter als 50. Der Rest (3.437 Personen)
war zwischen 15 und 24 Jahre alt.
Am straffreudigsten zeigten sich erneut die Berliner Jobcenter mit
einer Quote von 4,1 Prozent. Ebenfalls über dem Bundesdurchschnitt lagen
die Behörden in Sachsen (3,5 Prozent), Rheinland-Pfalz und im von der
Linkspartei regierten Thüringen (jeweils 3,2).
Erneut war in mehr als zwei Drittel der Fälle ein versäumter Termin
der Grund. Um hier einer Strafe zu entgehen, zählt »Vergessen« nicht als
Ausrede, häufig nicht einmal ein Krankenschein. Nach einem Urteil des
Bundessozialgerichts dürfen Jobcenter von ihren Klienten bei Krankheit
zusätzlich eine »Bettlägerigkeitsbescheinigung« des Arztes verlangen.
Unter 25jährigen werden in der Regel schon nach dem zweiten
»Vergehen« sämtliche Bezüge gestrichen. Schreiben sie zu wenige
Bewerbungen oder brechen eine Maßnahme ab, kürzt ihnen das Jobcenter in
einer ersten Stufe die gesamte Regelleistung für drei Monate. Im
Wiederholungsfall binnen eines Jahres streicht es zusätzlich die Beträge
für Miete und Krankenversicherung. Der Verein »Karuna«, der sich unter
anderem um Straßenkinder kümmert, nannte kürzlich Sanktionen als
häufigen Grund dafür, dass Jugendliche auf der Straße leben. Nach einer
im Juni veröffentlichten Studie des Deutschen Jugendinstituts leben
bundesweit rund 21.000 Minderjährige und mehr als 30.000 18- bis
27jährige »komplett entkoppelt« von allen Sozialsystemen. Ältere
Erwerbslose und Aufstocker trifft es ab dem dritten »Fehltritt« nach
vorherigen Kürzungen um je 30 und 60 Prozent.
Als am 1. Oktober die Regierungsparteien im Parlament geschlossen für
das Weitersanktionieren stimmten, nannte die Linke-Vorsitzende Katja
Kipping den vollständigen Entzug der Lebensgrundlage »eine besondere
Grausamkeit gegen Bedürftige« (siehe jW vom 5. Oktober). Die
Bundesregierung verschleppt unterdessen weiter geplante
»Rechtsvereinfachungen« bei Hartz IV. Eine Arbeitsgruppe hatte hierfür
unter anderem beschlossen, das verschärfte »Strafrecht« gegen
Jugendliche dem für Erwachsene gültigen anzupassen. Doch die
Verhandlungen stocken seit Monaten. Laut BMAS liegt das am Widerstand
der CSU. Die Bayernpartei hatte vehement gefordert, die harte
Sanktionspraxis für Jüngere beizubehalten. Ergo: Jung gegen alt,
Erwerbslose gegen Flüchtlinge – so werden Arme im besten Sinne
gegeneinander ausgespielt.