Diakonie stellt Alternativkonzept zu Hartz IV vor

 

 

Hartz IV-Sätze lebensnah berechnen - Diakonie stellt Alternativ-Modell vor

18. Dezember 2020

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Am 1. Januar 2021 tritt das
neue Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz in Kraft, das die Höhe des
Existenzminimums festlegt. Die Diakonie Deutschland fordert, die
Berechnungsmethode für die Regelsätze in der Grundsicherung („Hartz IV“)
grundlegend zu reformieren und an die Lebenswirklichkeit von
Leistungsberechtigen anzupassen. Dazu hat die Diakonie Deutschland am
Freitag ein Rechenkonzept vorgelegt, das von der Verteilungsforscherin
Dr. Irene Becker erarbeitet wurde. Es gewährleistet ein realistisches
Existenzminimum, wahrt aber zugleich den Abstand der Regelsätze zu
den mittleren Einkommen.

© epd-bild / Norbert Neetz

Menschen, die Grundsicherung beziehen, müssen davon
menschenwürdig leben und soziale Teilhabe erfahren können. Das Modell
der Diakonie schlägt eine Berechnung vor, die Fehler der Vergangenheit
und willkürliche Streichungen von Ausgaben vermeidet.

 

 

 

 

Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland:
„Menschen, die Grundsicherung beziehen, müssen davon menschenwürdig
leben und soziale Teilhabe erfahren können. Das Modell der Diakonie
schlägt eine Berechnung vor, die Fehler der Vergangenheit und
willkürliche Streichungen von Ausgaben vermeidet. Mit diesem Konzept
wird ein realistischer Regelsatz ermittelt, der das Lebensnotwendige und
gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, zugleich aber auch einen Abstand
der Regelsätze zu den mittleren Einkommen wahrt.“

Der Kern des
Diakonie-Rechenmodells: Referenzausgaben für physische Grundbedarfe wie
Nahrung und Kleidung dürfen um maximal 25 Prozent, die weiteren Ausgaben
um nicht mehr als 40 Prozent hinter dem zurückbleiben, was die
gesellschaftliche Mitte ausgibt. Dazu wird eine statistische
Vergleichsgruppe mit niedrigen Einkommen identifiziert, die diesen
Vorgaben am nächsten kommt. Anhand dieser wird der Regelsatz ermittelt.
Sie wird mit dem nach Einkommen mittleren Fünftel der Haushalte
verglichen. „Das neue Verfahren belässt einen politischen
Entscheidungsspielraum, stellt aber auch sicher, dass der Abstand
zwischen dem Existenzminimum und dem mittleren Lebensstandard nicht zu
groß ist. Es ist transparent und nimmt keine willkürlichen Kürzungen
vor“, sagt Gutachterin Dr. Irene Becker.

Maria Loheide betont:
„Dieser Vorschlag macht deutlich: In der Sozialpolitik müssen wir offen
darüber diskutieren, wie weit das Existenzminimum sich von dem entfernen
darf und soll, was in der gesellschaftlichen Mitte normal ist. An die
Stelle willkürlicher Entscheidungen in Rechendetails gehört eine klare
und transparente Festlegung dieses Abstands.“

Auf Grundlage des
Diakonie-Modells könnte das Statistische Bundesamt die Auswertung der
nächsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vorbereiten. Die Diakonie
schlägt vor, eine Sachverständigenkommission einzusetzen, die die
Methodik der Regelsatzermittlung weiterentwickelt. „Wir müssen bereits
jetzt Weichen für eine korrekte Berechnung im Jahr 2024 stellen. Es ist
genug Zeit, Expertise aus Wissenschaft und Verbänden zu nutzen, damit
methodische Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden“, so
Loheide.

 

Zum Hintergrund: Methodischer Hinweis und Vergleich

Nach
dieser Methode sind Haushalte mit einem Sozialleistungsanspruch nicht
Teil der statistischen Vergleichsgruppe. In die Regelsatzermittlung
fließen zudem nur Ausgaben ein, die sinnvoll als Pauschalen gestaltet
werden könnten: Lebensfremde Annahmen wie das jahrelange Sparen auf
einen Kühlschrank entfallen. Kostenintensive Anschaffungen werden
gesondert finanziert. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen sind
die ab 2021 vorgesehenen Regelsätze bis rund 180 Euro zu niedrig. Die
folgende Tabelle vergleicht die Berechnungen aus dem Gutachten mit den
Berechnungen des BMAS im beschlossenen Gesetz:

Regelsätze / Personengruppen BMAS Regelsatz RBEG 2020 gesamt Regelsatzermittlung Dr. Irene Becker RBEG 2020 vergleichbare Positionen* Differenz vergleichbarer Positionen RBEG / Becker
Alleinstehende 446,00 578,98 € 396,34 182,64
Paare 802,00 971,36 € 723,40 257,96
Kinder unter 6 Jahren 283,00 282,97 € 280,92 2,05
Kinder von 6 bis 13 309,00 384,74 € 315,29 69,45
Jugendliche (14- 17) 373,00 443,66 € 371,15 72,52
 

* Da im Alternativmodell die nicht pauschalierbaren Ausgaben weiter
abgegrenzt sind als im RBEG, sind die ermittelten Beträge nicht
unmittelbar mit den Ergebnissen des gesetzlichen Ermittlungsverfahrens
vergleichbar. Deshalb wurden die Beträge laut RBEG um die
Ausgabenpositionen Strom, Wohnungsinstandhaltung, Möbel, Teppiche, Kühl-
und Gefriergeräte, Waschmaschinen und sonstige Haushaltsgroßgeräte
reduziert und auf dieser Basis die Mehrbeträge gegenüber „RBEG
vergleichbar“ berechnet. Teilweise sind hier auch pauschalierte
Zusatzbeträge enthalten, die zusätzlich zum Regelsatz erstattet werden
wie z.B. die 15-€-Pauschale aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, in
diesem Gutachten aber als Teil des Regelsatzes eingerechnet wurden.

 

 

Aus: Ausgabe vom 19.12.2020, Seite 5 / Inland
ALG II

Armutsregime brechen

Diakonie stellt Alternativkonzept zu Hartz IV vor

 

Hartz IV bedeutet Armut per Gesetz

Die Diakonie hat eine grundsätzliche Reform der Berechnung des
Regelbedarfs für Hartz-IV-Empfänger vorgeschlagen. Das Modell zielt im
Kern darauf ab, die Bezüge auf Grundlage eines »realistischen
Existenzminimums« zu erhöhen, zugleich aber den Abstand zu den mittleren
Einkommen zu wahren, wie die Diakonie am Freitag in Berlin mitteilte.

In Zahlen ausgedrückt sieht das Modell so aus: Referenzausgaben für
»physische Grundbedarfe« wie Nahrung und Kleidung sollen künftig um
maximal 25 Prozent, die weiteren Ausgaben um nicht mehr als 40 Prozent
hinter dem zurückbleiben dürfen, was die »gesellschaftliche Mitte«
ausgibt. Der so berechnete Regelsatz solle »das Lebensnotwendige und
gesellschaftliche Teilhabe« ermöglichen, erklärte Maria Loheide,
Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Das neue Modell solle
dabei »die Fehler der Vergangenheit und willkürliche Streichungen von
Ausgaben vermeiden.«

Für die Bezieher würde die neue Berechnung höhere Bezüge ergeben. Der
Hartz-IV-Satz würde von 446 Euro pro alleinstehendem Erwachsenen auf
579 Euro ansteigen. Bei Beziehern in Paargemeinschaft stiege er von 802
Euro auf 971 Euro. Auch die Sätze für Kinder sollen steigen.
Ausgearbeitet wurde das Modell von der Verteilungsforscherin Irene
Becker. »Das neue Verfahren belässt einen politischen
Entscheidungsspielraum, stellt aber auch sicher, dass der Abstand
zwischen dem Existenzminimum und dem mittleren Lebensstandard nicht zu
groß ist«, erklärte Becker.

Für die Ermittlung des Grundbedarfs
solle eine statistische Vergleichsgruppe mit niedrigen Einkommen
identifiziert werden, die den Vorgaben am nächsten kommt. Anhand dieser
wird dann der Regelsatz ermittelt. Die Vergleichsgruppe der Bezieher
wird mit dem nach Einkommen mittleren Fünftel der Haushalte verglichen.
Die Diakonie schlug vor, eine Sachverständigenkommission einzusetzen,
die die Methodik der Regelsatzermittlung weiterentwickelt. Bereits jetzt
müssten »Weichen für eine korrekte Berechnung im Jahr 2024« gestellt
werden, erklärte Loheide. Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von
2010 muss die Regelsatzermittlung transparent, sach- und
realitätsgerecht erfolgen. (AFP/jW)

https://www.jungewelt.de/artikel/392836.alg-ii-armutsregime-brechen.html