Einkommen sind immer ungleicher verteilt

 

Dienstag, 05. November 2024, Darmstadt / Wirtschaft
Angst vor dem Abstieg nimmt zu
Die Einkommen sind immer ungleicher verteilt. Das hat auch Auswirkungen auf die Demokratie / Von Frank-Thomas Wenzel

Da beschleunigt sich ein negativer Trend: Seit knapp anderthalb Jahrzehnten geht die Schere bei den Einkommen in Deutschland zunehmend auseinander. Diese Entwicklung gab es schon in den 2010er-Jahren. Doch mit Corona und dem anschließenden Inflationsschub hat sich insbesondere die Situation der Haushalte in der unteren Hälfte der Einkommensskala noch einmal verschärft. Auch tief in die Mittelschicht steigt die Angst der Menschen, ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Dies geht aus dem aktuellen Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervor, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört.

Das hat auch Auswirkungen auf die Demokratie: Sogar in der Mittelschicht sei mittlerweile die „politische Teilhabe teilweise brüchig“, schreiben die Studienautorin Dorothee Spannagel und ihr Kollege Jan Brülle. Eine zentrale Erkenntnis der Analysen ist, dass die Einkommen immer ungleicher verteilt sind – hier wurde ein neuer Höchstwert erreicht.

Der unter Forschenden international anerkannte Maßstab dafür ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Er reicht von null (alle haben das gleiche Einkommen) bis 1 (eine einzige Person bekommt das gesamte Einkommen eines Landes). 2010 lag der Gini-Wert noch bei 0,282 – im Jahr 2021 war es 0,310. Dies ist auch für die Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland relevant. Denn in Studien über Wettbewerbsfähigkeit spielt der Gini-Wert eine wichtige Rolle. Je niedriger er ist, umso höher wird die ökonomische und politische Stabilität eines Landes bewertet.

Die WSI-Expert:innen haben sich auch intensiv die Veränderungen angeschaut bei armen und prekären Haushalten sowie bei Personen, die zur „unteren Mitte“ der Einkommensskala gehören. Damit werden alle erfasst, die unter dem Mittelwert (Median) der verfügbaren monatlichen Nettoeinkünfte liegen – das sind 2240 Euro für einen Single.

Besonders drastisch ist die Zunahme bei Personen, die unter „strenger Armut“ leiden – also weniger als 1120 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt. 2010 waren das noch 7,8 Prozent der Menschen in Deutschland. Ihre Zahl kletterte bis 2021 auf 11,3 Prozent. Hierbei handelt es sich um Frauen und Männer, die häufig noch nicht einmal mehr abgetragene Kleidung durch neue ersetzen können. Ins Kino gehen oder der Besuch einer Sportveranstaltung ist nicht drin. Es gibt keinerlei Rücklagen für finanzielle Notlagen.

All dies resultiert aus umfangreichen repräsentativen Umfragen des sozio-ökonomischen Panels, das aktuell bis ins Jahr 2022 reicht. Die Böckler-Stiftung hat in den Jahren 2020 und 2023 zudem 4000 Personen zu ihrer Lebenslage befragt. Ergebnis: 55 Prozent der Menschen in Armut äußerten im vorigen Jahr große oder sehr große Sorgen, ihren ohnehin niedrigen Lebensstandard dauerhaft halten zu können.

Breite Verunsicherung

Aber auch bei einer Mehrheit (52 Prozent) der Haushalte in der unteren Mitte – mit maximal 2240 Euro pro Person – sind die Abstiegssorgen groß oder sehr groß. Das bedeutet ein Anstieg um 15 Prozentpunkte innerhalb von nur drei Jahren, die durch die Pandemie, einen Energiepreisschock und massive Ausschläge bei der Inflation geprägt waren.

Selbst in der oberen Mittelschicht hat sich Verunsicherung drastisch ausgebreitet. Die Gruppe der Menschen, die um ihren Lebensstandard fürchten, ist zwischen 2020 und 2024 von 32 auf 47 Prozent in die Höhe geschnellt.

Diese Entwicklung ist eng mit einer wachsenden Enttäuschung über die Demokratie verknüpft. Mehr als die Hälfte der Menschen in Armut und in prekären Verhältnissen ist mit der Demokratie nicht mehr zufrieden. In dieser Gruppe stimmt gut ein Drittel der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk.“ Und immerhin jeder und jede Vierte in der oberen Mittelschicht hält dies ebenfalls für zutreffend. Dies geht einher mit einem verbreiteten Misstrauen gegenüber Polizei und Gerichten.

„Es ist entscheidend, das Teilhabeversprechen glaubhaft zu erneuern, das konstitutiv ist für eine demokratische, soziale Marktwirtschaft“, sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Dabei müsse die Politik das Rad nicht neu erfinden. Es gelte bewährte Institutionen wieder zu stärken, die leider erodiert seien. Sie zählt auf: „Tarifverträge, eine auskömmliche gesetzliche Rente und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur.“

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