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von Stephan Kaufmann 7.10.19
Wohlhabende haben mehr, die Ärmsten verlieren real an Einkommen - das zeigt der
Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen Instituts WSI.
Die Ungleichheit in Deutschland ist seit langem ein zentrales Thema
politischer Debatten. Immer wieder wird daher Umverteilung gefordert.
Dem wurde in den vergangenen Jahren jedoch entgegengehalten, das Problem
löse sich von allein, denn die soziale Schere schließe sich wieder. Das
arbeitgebernahe Institut IW stellte 2017 eine „stabile
Einkommensverteilung“ fest. Laut dem Münchener Ifo-Institut hat seit
2006 die Ungleichheit sogar „deutlich abgenommen“. Neue Berechnungen
zeigen nun aber: Der Rückgang währte nur kurz. Seit 2010 hat sich die
Schere wieder geöffnet. Grund ist, dass die Ränder der Verteilung
auseinanderstreben – die Armut nimmt zu.
Ungleichheit hat deutlich zugenommen
Die
Entwicklung der Ungleichheit ist ein umstrittenes Thema. Denn aus ihr
lassen sich politische Forderungen ableiten – entweder nach Umverteilung
von oben nach unten oder die Entlastung hoher Einkommen. Unstrittig
unter den Forschern ist, dass die Ungleichheit seit der
Wiedervereinigung deutlich zugenommen hat. Insbesondere nach dem Jahr
1999 kam es zu einem drastischen Anstieg, der allerdings 2005 zu Ende
ging. Seitdem sei die Verteilung der verfügbaren Einkommen „weitgehend
stabil“, stellte vergangenes Jahr noch der Sachverständigenrat zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung fest.
Doch das scheint nicht zu stimmen. Das gewerkschaftsnahe Institut WSI hat in
seinem neuen Verteilungsbericht untersucht, wie sich die verfügbaren
Haushaltseinkommen seit 2005 entwickelt haben. Das Institut analysierte
dafür die Daten des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP), einer
umfangreichen Haushaltsbefragung. Sie zeigen: Zwischen 2005 und 2009
ging der Gini-Koeffizient, das gängigste Maß für Ungleichheit,
tatsächlich zurück. Doch „seit dem Jahr 2010 zeichnet sich ein erneuter
Anstieg der Ungleichheit ab“. Im Jahr 2016 – das letzte Jahr, für das
bislang Daten vorliegen – hat sie einen Rekordwert erreicht. Und das
trotz der seit Jahren guten Konjunkturlage und sinkender
Arbeitslosigkeit.
Ungleichheit - „Die Armen werden zunehmend abgehängt“
Was tun gegen Ungleichheit? Das WSI stellt fest: „Ungleichheit ist kein Schicksal“. Und macht einige
Vorschläge, wie sie bekämpft werden könnte. So fordert es zum einen die
Verkleinerung des Niedriglohnsektors, zum Beispiel über eine Erhöhung
des Mindestlohns auf zwölf Euro oder die Stärkung von Tarifverträgen.
Tariflöhne haben in der Vergangenheit deutlich stärker zugelegt als der
Lohn-Durchschnitt.
Zu den Vorschlägenzählt auch eine stärkere Besteuerung von Spitzen- und Kapitaleinkommen. Statt einer
pauschalen Abgeltungssteuer von 25 Prozent müssten Kapitalerträge wieder
mit dem persönlichen Steuersatz belegt werden, der mit wachsendem
Einkommen progressiv steige. Nötig sei auch die höhere Besteuerung
großer Erbschaften und eine Wiederaufnahme der Vermögenssteuer.
Auch eine Anhebungder Hartz-IV-
Sätze befürwortet das Institut, so dass kein ALG-II-Empfänger unterhalb
der Armutsgrenze leben müsse. Dies sei häufig noch der Fall: 2014 habe
das komplette Einkommen eines Single-Haushalts mit ALG II im
Durchschnitt 160 Euro unterhalb der Armutsgrenze gelegen. kau
Die Daten zeigen laut WSI, dass nicht nur die wohlhabenden Haushalte
deutlich mehr Geld haben. Der Aufschwung bescherte auch der Mitte
Zuwächse. Das Problem: „Die mittleren Einkommen steigen zwar, die Armen
profitieren davon aber nicht, sie werden zunehmend von dieser
Entwicklung abgehängt.“ Die unteren 40 Prozent der Haushalte seien
gegenüber dem Rest zurückgefallen, die ärmsten zehn Prozent hätten sogar
real an Einkommen verloren. In der oberen Hälfte dagegen stiegen die
Einkommen kräftig.
Die Ränder der Verteilung entfernen sich damit voneinander. Es gibt immer
mehr Arme. 1991 waren noch lediglich 11,4 Prozent der Bevölkerung
einkommensarm, was bedeutet, ihr Einkommen lag unter 60 Prozent des
mittleren Einkommens. Dieser Wert ist inzwischen auf 16,7 Prozent
gestiegen. Diese Haushalte verfügen nicht unbedingt über weniger Geld
als vor einigen Jahren. Doch der Abstand ihres Einkommens zum –
gestiegenen – mittleren Einkommen ist gewachsen. Damit werden sie
relativ ärmer: 2005 lagen zwischen ihrem Einkommen und dem mittleren
Einkommen noch 2873 Euro. Diese „Armutslücke“ ist laut WSI inzwischen
auf 3452 Euro gestiegen.
Wachsende Lohnungleichheiten
Fazit des WSI: „Immer mehr Reichtum konzentriert sich bei den sehr Reichen, während gleichzeitig die Armen
zunehmend von der Entwicklung in der Mitte der Verteilung abgehängt
werden.“ Zu diesem Schluss kommt das Institut, obwohl in der
SOEP-Umfrage die extrem wohlhabenden Haushalte unterrepräsentiert sind,
da nur wenige von ihnen an Umfragen teilnehmen. Das bedeutet, dass die
Ungleichheit in der Realität wohl noch größer ist als die SOEP-Zahlen
zeigen. Starke Treiber dieser Entwicklung seien erstens die wachsenden
Lohnungleichheiten. Die zunehmende Spreizung der Löhne habe bereits Ende
der 1990er Jahre eingesetzt. Ein zweiter Grund sei die Tatsache, dass
die Kapitaleinkommen – beispielsweise aus Unternehmen oder Finanzanlagen
– stark bei den Reichen konzentriert sind. Über solche
Einkommensquellen „verfügen in nennenswertem Maße ausschließlich
Haushalte an der Spitze der Verteilung“, so das WSI. Und drittens
verteile der Staat weniger als früher von oben nach unten um. So seien
hohe Einkommen entlastet worden, während gleichzeitig geringe Einkommen
durch höhere Verbrauchssteuern belastet wurden.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW) kam zu dem Ergebnis, dass auch das Vermögen
in Deutschland sehr ungleich verteilt ist. Demnach besitzen die
reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte des gesamten
Vermögens (56 Prozent). Die ärmere Hälfte hat dagegen nur einen Anteil
von 1,3 Prozent. Allerdings habe die Vermögensungleichheit in den
vergangenen zehn Jahren nicht weiter zugenommen, heißt es in der
DIW-Untersuchung.