Einkommensungleichheit gestiegen

Aus: Ausgabe vom 11.10.2016, Seite 5 / Inland

Gegensätze zementiert

Neuer »Verteilungsbericht« gewerkschaftsnaher Stiftung:
Einkommensungleichheit in der BRD auf neuem Höchststand. Immer geringere
Aufstiegsschancen

Von Jana Frielinghaus

Betteln in Hamburg, September 2016: Die
Bundesrepublik leistet sich immer mehr »dauerhaft Abgehängte«, wie die
­aktuelle Untersuchung einmal mehr belegt

Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Mehr Infos: www.boeckler.de

Es
ist ein wenig überraschender Befund. Die Tendenz zur sozia­len Spaltung
in der Bundesrepublik verfestige sich, lautet das Fazit des aktuellen
Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. »Arm
bleibt arm, und reich bleibt reich, das gilt aktuell noch deutlich
stärker als vor 20 Jahren«, sagte Anke Hassel, wissenschaftliche
Direktorin des WSI, bei der Präsentation des Reports am Montag in
Berlin. Gleichzeitig seien die Abstände zwischen hohen und niedrigen
Einkommen »spürbar« gewachsen. Das gelte trotz der »guten Konjunktur und
der Rekordbeschäftigung«, so Hassel. Obwohl die aktuellsten Daten im
Bericht aus dem Jahr 2013 stammten, lasse sich feststellen, dass sich
der Trend seither fortgesetzt habe. Es sei daher »höchste Zeit«,
politisch gegenzusteuern.

Für den Bericht hat
WSI-Verteilungsexpertin Dorothee Spannagel etliche relevante Quellen
analysiert, unter anderem Daten aus dem »Sozioökonomischen Panel«
(SOEP), einer jährlich wiederholten Befragung von mehr als 10.000
Haushalten. Was Aufstiegschancen betrifft, betrachtete sie die
Fünfjahreszeiträume von 1991 bis 1995 sowie von 2009 bis 2013. Das
Ergebnis: Insbesondere in Ostdeutschland hat die »sozia­le Mobilität«
abgenommen, das heißt es gelingt immer weniger Menschen, aus einer
niedrigen Einkommensklasse in eine höhere aufzusteigen. In Ost wie West
blieben vor allem Arme und sehr Reiche immer häufiger da, wo sie sind.
Im Bundesdurchschnitt schafften es Anfang der 90er noch rund 58 Prozent
der Armen, in eine höhere Einkommensgruppe aufzusteigen. Knapp 20 Jahre
später gelang das innerhalb von fünf Jahren nur noch 50 Prozent. Damit
würden »wesentliche Teile der Bevölkerung« in Deutschland »dauerhaft
abgehängt«, stellte Spannagel fest.

Als arm definierte sie all
jene, deren persönliches Einkommen um mehr als 60 Prozent unter dem
sogenannten Medianeinkommen lag. 2013 entsprach dies jährlich
verfügbaren Mitteln inklusive staatlicher Transfers von weniger als
11.758 Euro bzw. unter knapp 980 Euro monatlich. Zur »unteren Mitte«
gehören laut Report Menschen mit einem Nettoeinkommen von mehr als 980
bis unter 1.633 Euro monatlich. Reich ist dieser Definition zufolge, wer
200 bis 300 Prozent des Medianeinkommens hat, also 3.266 bis 4.900 Euro
monatlich. Alle, die noch mehr erhalten, gelten demnach als »sehr
reich«.

junge Welt Probeabo

 

Die meisten Journalistennachfragen zielten auf Relativierung der
Aussagen: Ob die geringere soziale Mobilität im Osten nicht darauf
zurückzuführen sei, dass sich in den 90er Jahren die Situa­tion vieler
überdurchschnittlich stark verbessert habe. Oder ob, wer über 60 Prozent
des Medianeinkommens verfüge, wirklich arm und nicht eher nur
armutsgefährdet sei. Letztere Frage erscheint zumindest mit Blick auf
Bewohner vieler Großstädte angesichts der Mietenexplosion als abwegig.
Und zur finanziellen Situation in Ostdeutschland verwies die
Linke-Abgeordnete Sabine Zimmermann erst in der vergangenen Woche auf
die immer noch erheblichen Einkommensunterschiede zwischen »alten« und
»neuen« Bundesländern (siehe jW vom 4.10.). Ein
Vollzeitbeschäftigter verdiente demnach im Osten nach Daten der
Bundesagentur für Arbeit Ende 2015 im Monat durchschnittlich 770 Euro
weniger als im Westen.

Bei ihren Empfehlungen an die Politik
konzentrierte sich Autorin Spannagel im wesentlichen auf Maßnahmen zur
Verbesserung der Bildungschancen insbesondere von Migrantenkindern.
WSI-Direktorin Hassel betonte die Bedeutung eines »höheren
Erwerbsvolumens« insbesondere von Frauen, bei denen die Teilzeitquote
bekanntlich besonders hoch ist und der Umfang der Berufstätigkeit weit
unter europäischem Durchschnitt liegt. Zur Höhe des gesetzlichen
Mindestlohns äußerten sich die Wissenschaftlerinnen ebensowenig wie zu
Spitzensteuersätzen. Gleichwohl prognostizierten sie auf Nachfrage, die
seit Anfang 2015 geltende Lohnuntergrenze werde voraussichtlich nicht
wesentlich zur Verringerung des Abstands zwischen Arm und Reich
beitragen. Wer in Vollzeit zum ab Januar 2017 auf 8,84 Euro pro Stunde
angehobenen Mindestlohn – für den noch immer zahlreiche Ausnahmen für
bestimmte Branchen gelten – arbeitet, erhält brutto nur etwas mehr als
1.400 Euro monatlich, dürfte netto also kaum über die Armutsgrenze kommen.
https://www.jungewelt.de/2016/10-11/023.php