Zu wenig zum Leben
Fast eine Million Sanktionen sprechen die
Jobcenter jährlich gegen Hartz-IV-Empfänger aus. Darf der Staat Menschen
so in Existenznot bringen? Das Bundesverfassungsgericht prüft die
Hartz-IV-Leistungskürzungen.
13.01.2019 17:02 Uhr
Foto: dpa
Hartz-IV-Empfängern, die ihre Pflichten vernachlässigen, wird
auf Monate Geld gestrichen – aber darf der Staat überhaupt Menschen in
Existenznot bringen, um Druck auszuüben? Am Dienstag nimmt das
Bundesverfassungsgericht die Leistungskürzungen unter die Lupe, die im
schlimmsten Fall so weit gehen können, dass jemand ohne Unterstützung
dasteht. Zur Verhandlung in Karlsruhe wird Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil (SPD) erwartet.
Die Überprüfung angestoßen hat das Sozialgericht im thüringischen
Gotha. Die Richter dort halten die Sanktionen für verfassungswidrig. Sie
sehen unter anderem das vom Grundgesetz garantierte menschenwürdige
Existenzminimum verletzt: Betroffenen drohten Schulden, Obdachlosigkeit,
Krankheit und Hunger. Weil sie sich nicht eigenmächtig über Gesetze
hinwegsetzen dürfen, haben sie ein Verfahren ausgesetzt, um die
Vorschriften in Karlsruhe vorzulegen.
Junge Hartz-IV-Empfänger werden schärfer sanktioniert
Der Arbeitslose, der in Gotha geklagt hat, hatte vom Jobcenter Erfurt
eine Stelle als Lagerarbeiter angeboten bekommen. Er lehnte ab, weil er
lieber im Verkauf arbeiten wollte. Einen Gutschein über eine Art
Probepraktikum in diesem Bereich ließ er später verfallen. Das Jobcenter
kürzte ihm deshalb 2014 die monatliche Grundsicherung - erst um 30
Prozent um 117,30 Euro, dann um 60 Prozent um 234,60 Euro.
Um 60% kürzte das Jobcenter einem Arbeitslosen aus Gotha die monatliche Grundsicherung.
Hartz-IV-Empfänger sind gesetzlich verpflichtet, sich aktiv um ein
Ende ihrer Hilfebedürftigkeit zu bemühen. Kommen sie dem ohne wichtigen
Grund nicht nach, drohen Leistungskürzungen in mehreren Stufen. Auch die
Übernahme der Kosten für die Unterkunft kann gestrichen werden. Im
äußersten Fall fallen sämtliche Leistungen weg. Junge Menschen unter 25
Jahren werden besonders scharf sanktioniert.
2017 verhängten die Jobcenter fast eine Million Sanktionen. Davon
kann allerdings mehrfach dieselbe Person betroffen sein. In gut drei
Viertel der Fälle hatten die Betroffenen einen Termin beim Jobcenter
versäumt. Dafür werden die Leistungen um zehn Prozent gekürzt.
In der bereits veröffentlichten Verhandlungsgliederung werfen die
Richter eine Vielzahl von Fragen auf. Beispielsweise wollen sie wissen,
ob die Kinder von Hartz-IV-Empfängern vor den Auswirkungen der
Leistungskürzungen ausreichend geschützt sind. Nachfragen provoziert
auch, dass das Geld gleich für drei Monate gestrichen wird - auch wenn
der Betroffene inzwischen Besserung gelobt hat.
Heil für Abmilderungen der Hartz-IV-Sanktionen
Heil sprach sich kurz vor Verhandlungsbeginn für Abmilderungen bei
den Hartz-IV-Sanktionen aus. „Sanktionen, die nicht helfen und Menschen
unnötig verunsichern, sollten wir abschaffen. Ich bin etwa dafür, dass
man das Geld für die Wohnung nicht mehr streichen kann“, sagte er der
„Bild“ (Montag). Zwar müsse, wer Steuergeld in Anspruch nehme, auch
mitwirken. „Die Debatte um diejenigen, die nicht mitwirken, hat bei der
Mehrheit derjenigen, die arbeiten wollen, aber schlechte Chancen haben,
den Eindruck hinterlassen, dass sie als faul betrachtet werden. Ich will
so viel Ermutigung wie möglich und so viel Ermahnung wie nötig“.
Die ganztägige Verhandlung ist die erste, die von dem früheren
Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth geleitet wird. Der 47-Jährige war
Anfang Dezember als neuer Vorsitzender des Ersten Senats und
Vizegerichtspräsident nach Karlsruhe gewechselt. 2020 wird er aller
Voraussicht nach Nachfolger von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle.
14 Jahre nach der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
zu Hartz IV wird auch in der Politik über eine Reform diskutiert.
SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles hatte im November
angekündigt: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.“ Minister Heil will
noch in diesem Jahr die scharfen Sanktionen für Unter-25-Jährige und
die Kürzung der Unterkunftskosten abschaffen. In der großen Koalition
mit der Union dürfte das aber nicht leicht umzusetzen sein.
Beanstandet das Verfassungsgericht das Sanktionssystem, würde das
eine Reform erzwingen. Nach der Verhandlung berät der Senat im Geheimen.
Das Urteil wird meist einige Monate später verkündet. (dpa)
(Az. 1 BvL 7/16)
http://www.fr.de/wirtschaft/arbeit-soziales/hartz-iv-sanktionen-zu-wenig...