Grundsicherung: Viele nutzen Anspruch nicht

 

DIW Pressemitteilung
vom 4. Dezember 2019

Rund 60 Prozent der anspruchsberechtigten Seniorinnen und Senioren nehmen Grundsicherung
nicht in Anspruch – Einkommen würden bei voller Inanspruchnahme im
Schnitt um 30 Prozent steigen – Antragsverfahren müssten vereinfacht und
Bürokratie abgebaut werden

Mehr als die Hälfte der Seniorinnen und Senioren, denen
Grundsicherung im Alter zusteht, nehmen diese nicht in Anspruch. Dies
ergibt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die vom Forschungsnetzwerk
Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund gefördert
wurde.

Verdeckte Altersarmut lässt sich nur schwer quantifizieren. Die
DIW-ÖkonomInnen Peter Haan, Hermann Buslei, Johannes Geyer und Michelle
Harnisch haben den Versuch gewagt. Anhand von Daten des
Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) haben sie in unterschiedlichen
Szenarien geschätzt, wie vielen Haushalten in der älteren Bevölkerung
die Grundsicherung im Alter zustünde. Mithilfe der Angaben über den
tatsächlichen Leistungsbezug ließ sich die Gruppe identifizieren, die
zwar einen Anspruch hätte, diesen aber nicht geltend macht: Im
Basisszenario sind es knapp 62 Prozent oder hochgerechnet etwa 625 000
Privathaushalte, die ihren Anspruch nicht wahrnehmen.

Besonders hoch ist die Quote bei Personen, die älter als 77 Jahre (73
Prozent) oder verwitwet (77 Prozent) sind. Auch ein niedriger
Bildungsstatus geht damit einher, dass die Grundsicherung seltener in
Anspruch genommen wird. Vor allem aber nehmen diejenigen, die monatliche
Beträge bis 200 Euro aus der Grundsicherung zu erwarten haben, diese
häufig nicht in Anspruch (80 Prozent). „Vielen ist das Verfahren
vermutlich zu aufwendig – gerade bei kleinen Beträgen – oder sie wissen
gar nicht, dass sie den Rechtsanspruch haben“, vermutet Studienautor
Hermann Buslei. Auch die Angst, als „Almosenempfänger“ abgestempelt zu
werden, könne eine Rolle spielen.

Grafik: DIW Berlin

Altersvorsorgepolitik ist nur scheinbar erfolgreich

Um durchschnittlich rund 30 Prozent würde das Einkommen der Haushalte
steigen, wenn sie Grundsicherung in Anspruch nähmen. Dies entspricht
einer absoluten durchschnittlichen Einkommensänderung von 2 650 Euro pro
Jahr oder etwa 220 Euro im Monat. Profitieren würde erwartungsgemäß vor
allem die untersten zehn Prozent der Einkommen. Nähmen tatsächlich alle
Grundsicherungsberechtigten ihre Ansprüche wahr, würde dies den Staat
rund zwei Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich kosten, haben die
DIW-ÖkonomInnen errechnet.

„Viele Menschen wissen nicht, dass sie
anspruchsberechtigt sind oder erwarten nur geringe Beträge. Andere
trauen sich nicht zuzugeben, dass sie bedürftig sind, und wieder anderen
ist das Verfahren zu bürokratisch und aufwendig“ Peter Haan

„Verdeckte Altersarmut ist ein weitverbreitetes Phänomen, dem man eigentlich mit
der Einführung der Grundsicherung im Jahr 2003 entgegenwirken wollte“,
berichtet Studienautor Johannes Geyer. Tatsächlich hat sich die Zahl der
GrundsicherungsbezieherInnen seitdem von 260.000 auf 566.000 im Juni
2019 mehr als verdoppelt. Allerdings ist die Quote mit nur gut drei
Prozent aller Personen ab der Regelaltersgrenze weiterhin niedrig. „Die
niedrige Grundsicherungsquote ist schon deswegen kein guter Indikator
für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung, weil die Nichtinanspruchnahme
der Grundsicherungsleistungen hoch ist“, ergänzt Geyer.

Mehr Informationen und vereinfachte Verfahren notwendig

„Viele Menschen wissen nicht, dass sie anspruchsberechtigt sind oder erwarten
nur geringe Beträge. Andere trauen sich nicht zuzugeben, dass sie
bedürftig sind, und wieder anderen ist das Verfahren zu bürokratisch und
aufwendig“, erklärt Studienautor Peter Haan. Wenn Unwissenheit,
Stigmatisierung, und Komplexität die Gründe für die Nichtinanspruchnahme
von Grundsicherung sind, dann könne die Politik entsprechend reagieren.
Das Informationsangebot müsste verbessert werden, um beispielsweise die
unbegründete Angst vor dem Rückgriff auf das Einkommen oder Vermögen
der Kinder zu nehmen. Der Stigmatisierung könne entgegengewirkt werden,
indem der Rechtsanspruch auf Leistungen gegenüber der Vorstellung von
Almosen im Alter betont wird. „Leider wurde auch in der aktuellen
Diskussion um die Grundrente die Grundsicherung immer wieder als der zu
vermeidende schlechte Status von der Grundrente abgegrenzt. Das hat das
Stigma eher verschärft“, so Studienautor Geyer. Zudem sollten die
Verfahren vereinfacht werden, indem beispielsweise die Berechtigten
vorausgefüllte Anträge erhalten.

Zielführend könnte es auch sein, die Bewilligungsphase von derzeit
zwölf Monaten zu verlängern, da sich die Einkommenssituation der
Seniorinnen und Senioren in der Regel nicht mehr häufig grundlegend
ändert. „Entfallen könnte auch die aufwendige Vermögensprüfung, da
Vermögende in der Regel hohe Kapitaleinkünfte haben, die schon in der
Einkommensprüfung zu Buche schlagen“, schlägt Peter Haan vor. „Eine
vereinfachte Antragstellung und weniger Bürokratie könnte ein
effizienter Weg sein, um die verdeckte Altersarmut etwas einzudämmen.
Abschaffen kann man sie nur, wenn die Leistungen ohne Beantragung
ausgezahlt würden.“

 

 
 

 

Peter Haan

Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

Hermann Buslei

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Staat

Johannes Geyer

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

https://www.diw.de/de/diw_01.c.699978.de/grundsicherung__hohe_rate_der_n...

 

 

 

Aus: Ausgabe vom 05.12.2019, Seite 4 / Inland

Grundsicherung: Viele nutzen Anspruch nicht

Berlin. Knapp 62 Prozent der
anspruchsberechtigten Senioren stellen keinen Antrag auf den Bezug der
Grundsicherung im Alter. Grund dafür seien Unwissen, hohe bürokratische
Hürden oder die Scham vor dem Gang zum Amt, heißt es in einer am
Mittwoch vorgelegten Untersuchung des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW). Schätzungsweise 625.000 Privathaushalte
nähmen ihren Anspruch nicht wahr. Die Forscher vermuteten eine »hohe
verdeckte Altersarmut« und forderten unter anderem »eine vereinfachte
Antragstellung«. (AFP/jW)

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