Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Streit um Übernahme der Wohnkosten die Rechte von Hartz IV-Beziehern gestärkt.Gerichte müssen die Zahlungen vorläufiger Leistungen für die Unterkunft großzügig gewähren. Es bedürfe nicht erst einer Räumungsklage damit Jobcenter Unterkunftskosten vorläufig übernehmen (Az.: 1 BvR 1910/12). epd
FR 23.8.2017
Aus: Ausgabe vom 23.08.2017, Seite 5 / Inland
Hartz IV : Rechte von Beziehern gestärkt
Karlsruhe.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechte von Hartz-IV-Empfängern
gestärkt. Sozialgerichte müssen in Eilverfahren zur Übernahme der Wohn-
und Heizkosten prüfen, welche negativen Folgen den Betroffenen im
konkreten Fall drohen, so die Richter in einem am Dienstag
veröffentlichten Beschluss. Die Eilbedürftigkeit darf demnach nicht
»schematisch« beurteilt und die Anforderungen an ihre Glaubhaftmachung
dürfen nicht »überspannt« werden (Az.: 1 BvR 1910/12). Geklagt hatte ein
Mann, der nur reduzierte Leistungen erhielt, weil ihm unterstellt
wurde, er teile sich den Haushalt mit einer anderen Person. Seinen
Eilantrag auf höhere Leistungen für Alleinstehende lehnte das
Landessozialgericht ab. Da noch keine Räumungsklage erhoben sei, drohe
dem Mann keine Obdachlosigkeit. Karlsruhe stellte nun klar, dass es bei
der Übernahme der Wohnkosten nicht nur darum gehe, Obdachlosigkeit zu
verhindern. Vielmehr solle ein Existenzminimum gesichert werden. Dazu
gehöre, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben. (dpa/jW)
https://www.jungewelt.de/artikel/316842.hartz-iv-rechte-von-beziehern-ge...
Aus: Ausgabe vom 24.08.2017, Seite 5 / Inland
Behördenwillkür gebremst
Bundesverfassungsgericht: Erwerbslose dürfen nicht wegen eines puren Verdachts der Gefahr der Obdachlosigkeit ausgesetzt werden
Von Susan Bonath
Während ein höchstrichterliches Urteil darüber, ob Sanktionen gegen
Hartz-IV-Bezieher mit dem Grundgesetz vereinbar sind, weiterhin auf sich
warten lässt, sprach das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Betroffenen
nun mehr Schutz vor Obdachlosigkeit zu. In Eilverfahren zur Übernahme
der Wohn- und Heizkosten sei es die Pflicht von Sozialgerichten, den
Einzelfall genau zu prüfen. Sie dürften sich in ihren Entscheidungen
nicht darauf beziehen, ob der Vermieter bereits Räumungsklage gegen den
Leistungsberechtigten erhoben hat oder nicht. Bei der Übernahme der
Wohnkosten gehe es nicht nur darum, Obdachlosigkeit zu vermeiden.
Vielmehr solle ein Existenzminimum gesichert werden, zu dem auch die
gewählte Wohnung gehöre. Das teilte das BVerfG am Dienstag in Karlsruhe
mit. Damit hatte die Verfassungsbeschwerde eines Hartz-IV-Beziehers
Erfolg.
Ein Jobcenter in Nordrhein-Westfalen hatte dem
Beschwerdeführer die Mietzuschüsse gekürzt. Grund war der reine Verdacht
der Behörde, der Mann lebe womöglich nicht alleine in seiner Wohnung,
sondern teile sich den Haushalt mit einer weiteren Person. Er bestritt
dies und wehrte sich auf dem Rechtsweg. Das zuständige Sozialgericht
gewährte dem Kläger zunächst einstweiligen Rechtsschutz. Es
verpflichtete die Behörde, ihm bis zur Klärung des Einzelfalls vorläufig
Leistungen für seine Unterkunft zu gewähren. Das Jobcenter legte
dagegen Beschwerde bei der nächsthöheren Instanz ein. Das
Landessozialgericht Essen gab schließlich dem Amt Recht. Solange der
Vermieter keine Räumungsklage erhoben habe, drohe dem Kläger kein
Verlust der Wohnung, behauptete es. In seiner Verfassungsbeschwerde
kritisierte der Kläger, das Gericht habe damit sein Recht auf effektiven
Rechtsschutz verletzt und gegen Artikel 19 des Grundgesetzes verstoßen.
Die Verfassungsrichter in Karlsruhe pflichteten dem Mann nun bei: »Die
Fachgerichte müssen vorläufigen Rechtsschutz gewähren, wenn
Antragstellern sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende
Verletzung ihrer Rechte droht, die durch eine spätere Entscheidung in
der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann«, begründet das BVerfG
seinem am Dienstag veröffentlichten Beschluss vom 1. August. Im
vorliegenden Fall habe das Landessozialgericht das Verfahrensrecht
»übermäßig streng« gehandhabt. Damit habe es den Anspruch des Mannes,
materielles Recht durchzusetzen, »unzumutbar verkürzt«.
So hätten dem Betroffenen durch das Urteil relevante Nachteile
gedroht, die über die Gefahr »einer bloßen Obdachlosigkeit«
hinausgingen, führten die Karlsruher Richter weiter aus. Jobcenter seien
nämlich auch verpflichtet, das gesamte Existenzminimum zu sichern. Dazu
gehöre es, so das BVerfG, möglichst in der gewählten Wohnung bleiben zu
können. Die Jobcenter und Sozialgerichte müssten ihre Entscheidungen
auf sämtliche möglichen »negativen Folgen finanzieller, sozialer und
gesundheitlicher Art« hin prüfen. Wörtlich schreibt das BVerfG: »Die
Gerichte überspannen die Anforderungen an einen Anordnungsgrund im
Eilrechtsschutz auch dann, wenn sie eine drohende Obdachlosigkeit
zeitlich erst dann annehmen, wenn das Mietverhältnis bereits gekündigt
und Räumungsklage erhoben wurde.« Sie könnten nicht pauschal annehmen,
dass der Verlust der Wohnung noch verhindert werden könne.
Der Beschluss dürfte dem Mann im konkreten Fall allerdings nicht mehr
helfen. Er hatte die Beschwerde bereits 2012 eingereicht. Die
Verfassungsrichter ließen sich also für ihren Beschluss fünf Jahre Zeit.
Er stellt dennoch eine klare Ansage an Behörden und Gerichte dar, die
Wohnen in ihrer Praxis offenbar nicht als Bestandteil des
Existenzminimums ansehen. Anwälte kritisieren bereits seit Jahren, dass
Jobcenter häufig Leistungen aufgrund bloßer Annahmen kürzen. Betroffene
müssten dann regelmäßig selbst das Gegenteil beweisen, was aber oft gar
nicht möglich sei.
Gegenüber junge Welt hatten sowohl
die Bundesagentur für Arbeit (BA) als auch das SPD-geführte
Bundesministerium für Arbeit und Soziales mehrfach deutlich gemacht,
dass Wohnen für sie nicht zum physischen Existenzminimum gehöre. In
einer übermittelten Tabelle beziffern sie letzteres mit 205 Euro. Diesen
Betrag gestehen sie vollständig sanktionierten Personen in Form von
Lebensmittelgutscheinen maximal pro Monat noch zu. Doch auch dies ist
keine Pflicht-, sondern eine Kann-Leistung, die außerdem beantragt
werden muss. Die Miete ist in diesem Minimum vom Minimum nicht
enthalten. Betroffenen stehe es schließlich frei, »nachträglich ihren
Pflichten nachzukommen«, erklärte etwa Ende Juni BA-Sprecher Paul Ebsen.
In einem solchen Fall könnten die Behörden die Wohnkosten nachträglich
übernehmen.
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