Vereinte Nationen Die UN dürfen die Welt nicht schön rechnen
Von Uwe Kekeritz 15.10.2015
Der Hunger in den ärmsten Ländern der Welt darf nicht schön gerechnet werden.
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Das Recht auf Nahrung ist wohl das am häufigsten verletze Menschenrecht,
doch trickreich wurde die Zahl der Hungernden gesenkt. Das darf nicht
sein. Sonst werden wir dafür teuer bezahlen. Der Gastbeitrag.
Der diesjährige Welternährungstag
steht ganz im Zeichen der vermeintlich großen Erfolge im Kampf gegen
Hunger und Armut. Das wurde Anfang September deutlich, als die Vereinten
Nationen die Nachhaltigkeitsziele verkündeten. Die Weltgemeinschaft war
in Feierlaune: die Unterernährung habe sich halbiert – jedenfalls
beinahe.
Doch wie schon Churchill bemerkte: Traue
keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Auf dem
Welternährungsgipfel 1996 in Rom propagierten die Vereinten Nationen
(UN) noch die Halbierung der absoluten Zahl der Hungernden. Durch die
heftige Finanzkrise Ende der 90er Jahre stieg der Hunger aber an. Seit
2000 sollte deshalb nur noch der weltweite relative Anteil der
Hungernden halbiert werden. Die statistischen Zauberkünstler wussten
sehr wohl, dass auch dies nicht ausreichen würde. Deshalb verlegte man
das Vergleichsjahr von 1996 auf 1990 vor und bezog sich nur noch auf
Entwicklungsregionen, die ein großes Bevölkerungswachstum aufweisen. Der
Anteil der Hungernden reduziert sich von alleine, solange die
Wachstumsrate der Hungernden kleiner ist, als die der Gesamtbevölkerung.
Fortschritt sieht anders aus. Gleichzeitig profitierte die Statistik
von den enormen chinesischen Erfolgen bei der Bekämpfung des Hungers in
den 90er Jahren.
Die Finanzkrise von 2008 bis 2011
verschärfte die Situation wieder dramatisch, da die
Nahrungsmittelpreise extrem stiegen. Damit rückte selbst das Ziel den
relativen Anteil der Hungernden zu halbieren wieder in weite Ferne. Wie
konnte der Kampf gegen den Hunger trotzdem zur Erfolgsgeschichte werden?
2012 änderte die UN-Organisation für Ernährung (FAO) ihre Methodik zur
Erhebung und Definition von Unterernährung.
Als
unterernährt gilt seitdem nur noch, wer über ein Jahr die für einen
bewegungsarmen Lebensstil täglich nötige Energiemenge von 1800
Kilokalorien nicht aufnimmt – körperliche Arbeit ist nicht vorgesehen.
Fehlende Vitamine, Proteine und Mineralien sind der Statistik egal. Auch
kürzere Hungerperioden werden nicht erfasst, obwohl sie ebenso
verheerend sein können – besonders für Kinder und Schwangere, die durch
Mangelernährung irreparable Schäden erleiden können. Diese „verbesserte
Methodik“ reduzierte die Zahl der Hungernden schlagartig. So kam man
durch faule Tricks 2015 dem Ziel den Hunger zu halbieren näher.
Da
Hunger meist mit Armut einhergeht, war es folgerichtig beide Aspekte in
den Blick zu nehmen. 1985 galt als arm, wer weniger als einen Dollar
pro Tag zur Verfügung hatte. Die Weltbank hob jüngst die extreme
Armutsgrenze auf nun 1,90 Dollar an. Das war angesichts steigender
Lebenshaltungskosten ein überfälliger Schritt. Diese Anhebung war eine
faktische Absenkung der Armutsgrenze. Ein Dollar des Jahres 1985 wäre
heute nicht 1,90 sondern mindestens 2,10 Dollar wert. Durch statistische
Kniffe lassen sich auch Armutsziele leicht erreichen. Aber auch die UN
sollte Elend nicht schönrechnen.
Das Recht auf
Nahrung ist wohl das am häufigsten verletze Menschenrecht. Daher
bezeichnet der frühere UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler, den
Hungertod als Mord. Könnte der politische Wille mobilisiert werden,
würde zumindest dieses unnötige Leiden weitgehend der Vergangenheit
angehören. Damit das gelingt braucht es im Kampf gegen den Hunger und
Armut endlich eine ehrliche, klare Analyse. Der Professor für
Philosophie und Globale Gerechtigkeit Thomas Pogge von der Yale
Universität fordert deshalb zu Recht ein von den UN-Institutionen
unabhängiges Expertengremium. Dieses muss die Berechnung von Hunger und
Armut mit transparenten Methoden vornehmen. Erfolgsmeldungen sollten
nicht politisch interessensgeleitet sein.
Die
Entwicklungspolitik der G7-Staaten und damit auch Deutschlands setzt
beim Kampf gegen Hunger fatalerweise auf die industrielle
Landwirtschaft. Agrarkonzerne wie Monsanto, Syngenta, Bayer und Co.
reiben sich die Hände, da Initiativen wie „New Alliance for Food
Security and Nutrition“ unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Hunger
für sie bisher unerschlossene Märkte auch mit Hilfe von Steuermitteln
öffnet. Konkurrenzlos billige, subventionierte Fleischreste und
Milchüberschüsse zerstören die Existenzen lokaler Produzenten. Der
Zugang zu nutzbarem Land wird zunehmend erschwert und Landraub für
Großprojekte nimmt zu. Das birgt Konfliktpotential. Der Flächenhunger
für Futtermittel und andere Importe sind dafür mitverantwortlich.
Gleichzeitig verschärft sich die Lebenssituation der Betroffenen: die
Biodiversität schrumpft, die Abhängigkeit der Kleinbauern von
multinationalen Konzernen nimmt zu und der Klimawandel erschwert die
Situation zusätzlich dramatisch. In der Folge werden Menschen zur Flucht
getrieben.
Wenn die Regierung Merkel
Fluchtursachenbekämpfung ernst nehmen würde, müsste sie auch massiv
Hunger und Armut bekämpfen. Notwendig wäre eine dezentrale, auf
biologischen Prinzipien beruhende Landwirtschaft, die die
wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleistet, die Artenvielfalt fördert
und regionale Wirtschaftskreisläufe unterstützt.
Noch
immer hungern über eine Milliarde Menschen. Rechnet man den versteckten
Hunger dazu, der auf Mangelernährung basiert und auch nicht mit täglich
1,90 Dollar verhindert werden kann, summiert sich die Zahl auf
skandalöse zwei Milliarden oder sogar deutlich mehr Menschen. Unsere
Erde kann uns alle ernähren. Nicht zu handeln kommt uns teuer zu stehen.
Uwe Kekeritz ist Sprecher für Entwicklungspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion.
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