IMK: Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in Deutschland unterschätzt

Pressemitteilungen 2014

23.10.2014

Neue Studie des IMK -

Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in Deutschland unterschätzt

 

Einkommen und Vermögen von Millionären und Milliardären sind
in Deutschland schlecht erforscht und werden deshalb höchst
wahrscheinlich unterschätzt. Wie groß der Reichtum am oberen Ende der
Verteilungsskala genau ist, lässt sich mangels verlässlicher Erhebungen
kaum sagen. Aussagekräftige Steuerdaten fehlen ebenso. Sicher ist aber,
dass der Abstand zwischen Arm und Reich wächst – was auf die Wirtschaft
destabilisierend wirkt. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des
Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der
Hans-Böckler-Stiftung.

Große Ungleichheit ist nicht nur aus sozialer Sicht
problematisch, sondern auch keine gute Voraussetzung für eine solide
Wirtschaftsentwicklung: Einkommensschwache Haushalte und eine
Mittelschicht mit stagnierenden Einkommen können nicht so viele Güter
kaufen, wie für Vollbeschäftigung nötig wäre. Investitionen in neue
Maschinen und Gebäude erscheinen deshalb nicht rentabel. So legen die
Reichen ihr Geld eher an den Finanzmärkten an. Dieser „Überersparnis“
steht eine zunehmende Verschuldung unterer und mittlerer
Einkommensklassen oder des Auslands gegenüber, erklären die IMK-Forscher
Jan Behringer, Thomas Theobald und ihr Ko-Autor Prof. Dr. Till van
Treeck, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen.

In beiden Fällen handele es sich nicht um nachhaltige
Wirtschaftsmodelle, betonen die Forscher. So sähen viele international
führende Ökonomen die wachsende Ungleichheit als eine wesentliche
Ursache für die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und
2009. Daher sollte die Politik die Entwicklung der Einkommens- und
Vermögensverteilung genau beobachten, um gegebenenfalls eingreifen zu
können. Allerdings ist das leichter gesagt als getan. Denn die
Datengrundlage ist dünn – besonders am oberen Ende der Verteilung.
„Gewichtige Indizien“ sprechen dem IMK zufolge aber dafür, dass die
wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland meist unterschätzt wird. So
gibt es etwa Hinweise darauf, dass das Nettovermögen der reichsten
Haushalte in Deutschland während der 2000er Jahre weitaus schneller
gewachsen ist als die durchschnittlichen Einkommen in Deutschland.

Dass Wissenschaftler so wenig über Einkommen und Vermögen von
Millionären und Milliardären wissen, liegt zum Teil in der Natur der
Sache und zum Teil an der gegenwärtigen Politik. Während sich der Umfang
der Armut oder die Zahl der Besserverdiener mit groß angelegten
Befragungen wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) gut abbilden lässt,
ist der extreme Reichtum schwer messbar. Denn er konzentriert sich auf
eine sehr kleine, auf Diskretion bedachte Personengruppe, die von
freiwilligen Haushaltsumfragen kaum erfasst wird. Und: Selbst wenn es
gelänge, Millionärs- und Multimillionärshaushalte repräsentativ zu
erfassen, wäre fraglich, ob die Betreffenden ihr Einkommen und Vermögen
korrekt angeben würden.

Verlässliche Informationen dürften sich eher aus
Steuerstatistiken ablesen lassen, so die Wissenschaftler. Aber hier
fehle es an aktuellen Zahlen: Die vom französischen Ökonomen Professor
Thomas Piketty und anderen auf Basis von Steuerdaten generierte World
Top Incomes Database (WTID) nennt für Deutschland zuletzt Werte von
2007. Und auch eine Fortschreibung wird kein vollständiges Bild liefern:
Weil hierzulande keine Vermögensteuer mehr erhoben wird, haben auch die
Finanzämter den Überblick über die Besitztümer der Superreichen
verloren. Selbst bei den laufenden Einkommen ist die Zuordnung zu
einzelnen Personen oft nicht möglich. Denn seit Einführung der
pauschalen Abgeltungssteuer brauchen die meisten Kapitalerträge nicht
mehr in der persönlichen Steuerklärung aufgeführt zu werden.

Die unterschiedlichen Methoden liefern nicht nur
unzureichende, sondern zum Teil auch widersprüchliche Daten über
Entwicklungen im höchsten Einkommenssegment. So weisen Analysen mit dem
SOEP in den 2000er-Jahren eine Zunahme der Ungleichheit aus. Dagegen
konnten die höchsten Einkommensgruppen ihren Anteil am Kuchen laut WTID
in Deutschland – anders als in den USA – kaum steigern.

Das muss aber nicht heißen, dass der Prozess der
Polarisierung zum Stillstand gekommen ist, betonen die IMK-Forscher. Sie
vermuten vielmehr, dass die eher verhaltene Ausschüttungspolitik der
Unternehmen in Deutschland die Zunahme des privaten Reichtums
verschleiert. Angesichts fallender Lohn- und entsprechend steigender
Gewinnquoten sei eine weitere Zunahme der Ungleichheit in Deutschland
mehr als wahrscheinlich. Dies habe sich in den vergangenen Jahren aber
nicht in den persönlichen Einkommen der Superreichen niedergeschlagen,
weil das Geld häufig noch in den Unternehmen steckt. Anders als in den
USA, wo größere Teile der Gewinne direkt an Aktionäre und Topmanager
ausgezahlt wurden. Die einbehaltenen deutschen Unternehmensgewinne,
argumentieren die Wissenschaftler, seien jedoch letztlich den reichsten
Haushalten zuzurechnen. Schließlich sind sie die größten Anteilseigner
oder Firmeninhaber.

Das SOEP lässt in der jüngeren Vergangenheit zwar eine
zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen erkennen. Bei den Vermögen
hat sich der Statistik zufolge jedoch wenig getan. Allerdings ist dieser
Befund laut IMK-Analyse nicht recht plausibel. So hat das
Betriebsvermögen nach Angaben der befragten Haushalte zwischen 2002 und
2012 sogar abgenommen, was nicht mit Daten der Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung übereinstimmt. Jedenfalls sei – auch im Einklang mit den
Forschungsergebnissen von Piketty – viel eher damit zu rechnen, dass
wachsende Ungleichheit bei den Einkommen auch zu mehr Ungleichheit bei
den Vermögen führen wird. Mehr noch: Weil Bezieher hoher Einkommen mehr
sparen können und die Kapitalrendite erfahrungsgemäß häufig über der
Wachstumsrate der übrigen Einkommen liegt, könne man beinahe sicher mit
einem weiteren Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich rechnen.

Dafür spricht nach Analyse der Forscher zum Beispiel das
Verhältnis zwischen dem durchschnittlichen Nettovermögen, das Haushalte
im obersten Hundertstel (nicht: Zehntel) der Vermögensverteilung
besitzen, und dem mittleren äquivalenzgewichteten Einkommen, das die
Situation eines durchschnittlichen Haushaltes abbildet. Um möglichst
aussagefähige Ergebnisse zu erhalten, haben van Treeck, Behringer und
Theobald zwei Datenquellen miteinander kombiniert: das SOEP und die
Gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanz. Nach ihrer Berechnung, welche die
hohen Nettovermögen noch immer unterschätzen dürfte, verfügte das
vermögens-reichste eine Prozent (nicht: zehn Prozent) der Haushalte 2012
über durchschnittliche Nettovermögen von knapp 1,4 Millionen Euro pro
Kopf. Das entsprach dem 80-fachen des mittleren Pro-Kopf-Einkommens für
ein Jahr. 2002 hatte das Verhältnis erst beim 50-fachen gelegen.

Hier gelte es gegenzusteuern, mahnen Behringer, Theobald und
van Treeck. Immerhin habe die Politik den Zusammenhang zwischen
Ungleichheit und makroökonomischer Instabilität in früherer Zeit schon
einmal verstanden: „In den USA etwa erhöhte der Wealth Tax Act als Teil
des New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt und als Antwort auf die
Weltwirtschaftskrise von 1929 den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer
auf 79 Prozent.“ In Deutschland wären nach Auffassung der Forscher
heute zumindest die Wiedereinführung der Vermögensteuer sowie die
Abschaffung der Abgeltungssteuer geboten. Kapitalerträge würden dann
nicht mehr pauschal, sondern progressiv – mit dem persönlichen
Einkommensteuersatz – besteuert.

Weitere Informationen:

Jan Behringer, Thomas Theobald, Till van Treeck: Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland: Eine makroökonomische Sicht (pdf), IMK-Report 99, Oktober 2014.

Videostatement von Prof. Dr. Till van Treeck

Infografiken zum Download: in Böckler Impuls 14/2014
Die Reichen werden reicher und Vermögen: stetiges Wachstum

Kontakt:

Thomas Theobald
IMK

Rainer Jung
Leiter Pressestelle 

http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/45167_51581.htm