Aus: Ausgabe vom 29.09.2016, Seite 5 / Inland
Ringen um die Reste
Tafelrationen werden kleiner: Immer mehr Bedürftige sind auf Lebensmittelspenden angewiesen
Von Susan Bonath
Von der Politik allein gelassen, kann man bei den Tafeln Kontakte knüpfen (Dortmunder Tafel, 20. März 2013)
Foto: REUTERS/Ina Fassbender
Welkes Gemüse, Brot und Käse kurz vor dem Verfallsdatum: Rund zwei
Millionen Menschen versorgen sich inzwischen regelmäßig über die gut
2.100 Ausgabestellen der mittlerweile fast 1.000 Tafeln in Deutschland
mit Nahrung. Und es werden immer mehr, wie der Vorsitzende des
Bundesverbandes Deutsche Tafel, Jochen Brühl, am Dienstag warnte. Dies
bestätigten Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Verbandes. Das
Spendenaufkommen an Lebensmitteln, die nicht mehr verkauft werden
können, ist demnach deutlich weniger gewachsen als die Anzahl
Bedürftiger. Ergo: Es gibt weniger für alle.
So verzeichnete der
Verband einen »sprunghaften Anstieg« der Nutzer um 18 Prozent seit 2014.
Damals zählte er rund 1,5 Millionen Bedürftige. Zusätzlich seien
280.000 Geflüchtete auf diese Hilfe angewiesen. Die Warenspenden hätten
im gleichen Zeitraum nur um zehn Prozent zugelegt. Etwa die Hälfte der
Tafelgänger seien Kinder und Rentner, schätzt der Verband auf seiner
Internetseite. Die erste Stelle, in der für einen kleinen Geldbetrag
aussortiertes Essen ausgegeben wurde, eröffnete 1993 in Berlin. Zwei
Jahre später gründete sich der Bundesverband. Kurz vor der Einführung
von Hartz IV waren darin 430 Tafeln organisiert, 2014 existierten
bereits bundesweit 919 Gesamteinrichtungen – inklusive zahlreicher
»Kindertafeln«.
Seit Jahren berichten Medien über den schärfer
werdenden Kampf um die Reste. Wegen großen Andrangs würden Portionen
verkleinert, Bedürftige abgewiesen oder auf Wartelisten gesetzt. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung
machte im Januar die wachsende Zahl Asylsuchender mitverantwortlich.
Zwischen Einheimischen und ihnen komme es zum Beispiel bei der
Warsteiner Tafel (Nordrhein-Westfalen) immer öfter zum »Futterneid«,
hieß es wörtlich. Um alle zu versorgen, habe man dort die Rationen
halbiert. Ähnlich sei es in Halle (Sachsen-Anhalt), so die Frankfurter Allgemeine Zeitung
im Februar. Dort gebe es häufiger »Gerangel« um Brot, Milch oder
Gemüse. Menschen mit »Berechtigungskarte« dürften nur noch alle drei
Wochen statt 14tägig kommen, hieß es weiter.
Jochen Brühl sagte gegenüber dem Tagesspiegel
(Onlineausgabe, Mittwoch), man müsse »Neukunden« klarmachen, dass Tafeln
keine staatlichen Einrichtungen seien. »Einen Anspruch auf Lebensmittel
gibt es nicht.« Dennoch berichten Zeitungen immer wieder über Fälle –
auch jW sind solche bekannt –, in denen Jobcenter
sanktionierten Erwerbslosen mit dem Verweis auf die Tafel
Lebensmittelgutscheine verweigern.
Trotzdem, meinte Brühl, habe
sich der Konkurrenzkampf in vielen Ausgabestellen »entspannt«. Man setze
inzwischen Dolmetscher ein, in 40 Prozent der Tafeln engagierten sich
auch Geflüchtete als Ehrenamtliche. Die Menschen kämen schließlich nicht
nur, weil sie Hunger hätten, sondern auch, um Kontakte zu knüpfen.
»Tafeln sind zum zentralen Motor der Integration geworden«, lobte er.
Allerdings beobachte Brühl »mit Sorge die Versuche, einen Keil zwischen
die Ärmsten zu treiben«. Die Politik verlasse sich auf die Hilfe der
Tafeln. Verliere sie die Ärmsten weiter aus den Augen, mahnte der
Vorsitzende, »droht gesellschaftlicher Unfriede«. Er erinnerte die
Bundesregierung zudem daran, das Engagement von mehr als
60.000 ehrenamtlichen Helfern nicht länger überzustrapazieren.
Die
bundesdeutschen Tafeln sind nicht zuletzt ein Geschäftsmodell, durch
welches Handelsketten die teure Entsorgung abgelaufener Waren umgehen
können. Wohl darum lassen es sich die Rewe-Gruppe und Mercedes Benz
nicht nehmen, sich dieser Tage vom Verband als wohltätige Sponsoren für
den 10. Tafeltag feiern zu lassen. Dieses »Event« unter dem Motto
»Tafeln sind Orte der Begegnung« wollen Ausgabestellen an diesem
Wochenende – kurz vor dem 26. Jahrestag der »deutschen Einheit« –
regional begehen. Geplant seien unterschiedliche »besondere Aktionen«
wie »lange Tafeln«, Kinderfeste, Tage der offenen Tür, Vorträge über
Armut und Podiumsdiskussionen mit Politikern, in ȟber 100
Veranstaltungen« heißt es. Ferner solle dieses »Jubiläum« genutzt
werden, sich »öffentlich zu positionieren« und neue Ehrenamtliche
anzuwerben.