Immer mehr Minderjährige werden staatlich in die Obdachlosigkeit geschickt

 

Aus: Ausgabe vom 21.01.2017, Seite 5 / Inland

Kinder auf die Straße gesetzt

Für Ämter gilt: Wer nicht spurt, wird sanktioniert. Immer mehr Minderjährige werden staatlich in die Obdachlosigkeit geschickt

Von Susan Bonath

Der Verein KARUNA kümmert sich um obdachlose Jugendliche (Berlin, 14. November 2014)

Foto: Maja Hitij/dpa-Bildfunk

Sie gehen nicht zur Schule, halten sich mit Bettelei,
Kleinkriminalität oder gar Prostitution über Wasser: Auf deutschen
Straßen leben Zehntausende obdachlose Jugendliche. Das Deutsche
Jugendinstitut (DJI) schätzte 2015 die Zahl der Minderjährigen unter
ihnen auf 21.000 – Tendenz steigend. Der Staat habe sie abgeschrieben,
beklagen Vereine und Streetworker seit langem. »Starre Hilfesysteme«
setzten auf absolutes Wohlverhalten und würden damit individuellen
Problemen nicht gerecht, kritisierte damals Jörg Richert vom Verein
KARUNA im Gespräch mit jW. Er geht sogar von einer weit höheren
Dunkelziffer aus. Die Stiftung »Off Road Kids« warnte kürzlich zum
wiederholten Mal vor dem Anstieg des Elends.

Das
Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) lebt in einer anderen Realität. Auf
seiner Internetseite geht es auf obdachlose Jugendliche nicht ein. Statt
dessen lobt es Jugendschutz und Kinderrechte. Das Problem sei nicht
erfassbar, meint Behördensprecher Frank Kempe. »Ob die Zahl entkoppelter
oder abgehängter Jugendlicher in den letzten Jahren tatsächlich
zugenommen hat, lässt sich nicht feststellen«, resümierte er am Mittwoch
auf jW-Anfrage.

Die Verantwortung für die Umsetzung von
Nothilfen zur Grundversorgung, wie Obdach, medizinische Hilfe, Essen,
Duschmöglichkeiten und Schlafplätzen wies Kempe an die Bundesländer und
Kommunen. Dort könnten laut Gesetz auch junge Volljährige bis zu 26
Jahren Jugendhilfemaßnahmen beantragen, erklärte er. Doch nur in
»begründeten Fällen« müssten diese gewährt werden. Sofern sich
Jugendliche überhaupt in die bürokratischen Mühlen begeben, entschieden
hier die kommunalen Ämter häufig negativ, weiß Markus Seidel von »Off
Road Kids«. Schuld sei ein »fataler Sparzwang der Landkreise und
Städte«, sagte er Anfang Januar gegenüber jW. Dies führe dazu,
dass 18jährige aus Heimen in Wohnungen gesteckt und sich selbst
überlassen würden. »KARUNA«-Sprecher Jörg Richert erlebt es noch
drastischer: »Allein in Berlin werden jährlich etwa 400 Minderjährige
von Hilfseinrichtungen mit ihrer Habe in einer Mülltüte auf die Straße
gesetzt, weil sie verlangte Normen nicht erfüllt haben.«

Norm und Wohlverhalten, keine Hilfe ohne Gegenleistung: Nach diesem
Konzept verfahren auch die Jobcenter, für die schon 15jährige als
»erwerbsfähige Hilfebedürftige« gelten. Unter ihre Obhut fällt ein neues
»Pilotprogramm RESPEKT«, das Ministeriumssprecher Frank Kempe lobt. Mit
18 Einzelprojekten zwischen 2015 und Ende dieses Jahres ist es das Werk
der Bundesregierung. Kempe spricht von neuen Ansätzen für die Arbeit
mit Straßenjugendlichen. Dabei gehe es um »zusätzliche Hilfen auf dem
Weg in Bildungsprozesse, Maßnahmen, Ausbildung und Arbeitsförderung«.
Das Problem bleibt manifest: Wer nicht spurt, wird sanktioniert. Gerade
daran scheitere es häufig, ist man sich sowohl bei KARUNA also auch bei
»Off Road Kids« einig. »Fast alle Betroffenen haben zuvor versucht,
Hilfe zu bekommen«, sagte Seidel.

Konkret heißt das: Wer zum
Jobcenter muss und einen Termin vergisst, zu wenige Bewerbungen schreibt
oder eine Maßnahme abbricht, dem wird das Existenzminimum für drei
Monate gekürzt oder gestrichen. Das gilt schon für 15jährige. Hier
agieren die Ämter weiter wie bisher. Das zeigt eine aktuelle Übersicht
der Bundesagentur für Arbeit (BA), die jW vorliegt. Demnach
waren von Januar bis August 2016 jeden Monat bis zu 2.440 Minderjährige
und mehr als 10.000 junge Volljährige unter 21 Jahren von Jobcentern
sanktioniert worden, über 1.500 von ihnen vollständig. Bei den etwas
älteren bis zu 24 Jahren mussten monatlich sogar rund 18.000 von
gekürzten Bezügen leben, etwa 2.000 von ihnen erhielten trotz
Bedürftigkeit nichts mehr.

Zwar übermittelte der
Ministeriumssprecher die Sanktionsstatistik selbst, ging aber auf diese
Praxis gar nicht ein. Betroffenen stünden neben Leistungen zum
Lebensunterhalt auch Angebote der psychosozialen Betreuung zu, beteuerte
er, verschwieg aber die Bedingungen. Dass damit weiterhin junge
Menschen mit vielfältigen Problemen durchs Raster fallen, ist
programmiert.

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