Misereor und Entschuldungsbündnis legen »Schuldenreport 2021« vor. Folgen der Pandemie verschärfen weiter Lage im »globalen Süden«

 

Aus: Ausgabe vom 27.01.2021, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Globale Ungleichheit

Schluss mit Kreditdiktatur

Misereor und Entschuldungsbündnis legen
»Schuldenreport 2021« vor. Folgen der Pandemie verschärfen weiter Lage
im »globalen Süden«
Von Ralf Wurzbacher

 

 

Rares Gut: Wegen Schuldenprogrammen können sich ärmere Länder einen Virusschutz kaum leisten (Lusaka, Sambia)

 

Für die Menschen im Libanon war 2020 ein Jahr zum »Abschreiben«. Zu
den Scharen an Flüchtlingen aus Syrien kamen im Frühjahr zuerst Corona
und im August die Megaexplosion im Hafen von Beirut, die die halbe Stadt
verwüstete, Hunderttausende Einwohner obdachlos machte und das davor
schon brüchige politische System vollends diskreditierte. Die akute
Katastrophe war dabei nur der vorläufige Tiefpunkt eines anhaltenden
Niedergangs, den das Land seit gut drei Jahren erleidet. Infolge einer
beispiellosen Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 55 Milliarden US-Dollar (45 Milliarden
Euro) 2018 auf zuletzt 22 Milliarden halbiert. Die Folgen sind
Massenerwerbslosigkeit, verbreitete Armut und Hoffnungslosigkeit. Mehr
als die Hälfte der Bevölkerung ist derzeit abhängig von
Lebensmittellieferungen.

 

In ihrem »Schuldenreport 2021«, den das
katholische Hilfswerk Misereor und das Entschuldungsbündnis
»Erlassjahr.de« am Dienstag in einer digitalen Pressekonferenz
vorstellten, gehört der Libanon zu den Saaten mit den höchsten
Verbindlichkeiten weltweit. Die öffentlichen Schulden beliefen sich zum
Jahresende auf schätzungsweise 171 Prozent des BIP. In der Gesamtschau
stehen lediglich Eritrea und der Sudan schlechter da. Neben Sambia ist
das Nahostland eines von nur zweien, die bei allen fünf in der Studie
angelegten Verschuldungskriterien mit »sehr kritisch« abgeschnitten
haben. Wobei das afrikanische Land das bisher erste ist, das infolge der
pandemiebedingten Rezession die Zahlungsunfähigkeit erklären musste.

 

Überhaupt
habe sich die Lage durch die Gesundheitskrise vielerorts im sogenannten
globalen Süden weiter »dramatisch verschärft«, erklärte Kristina
Rehbein, politische Referentin von Erlassjahr.de. »Viele arme Länder
haben wenig Spielraum, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Die
Schuldensituation begrenzt die Handlungsfähigkeit zusätzlich.« Nach den
vorgelegten, auf Vorhersagen der Weltbank und des Internationalen
Währungsfonds (IWF) beruhenden Zahlen sind von den 148 untersuchten
Staaten 132 »kritisch verschuldet«, das sind acht mehr als bei der
letzten Erhebung, und mit Chile, Thailand und den Philippinen gehören
auch drei größere Schwellenländer dazu. Im November befanden sich 21
Staaten im teilweisen Zahlungsausfall gegenüber ihren ausländischen
Gläubigern, zwei mehr als im Vorjahr. Weitere Kandidaten stehen laut
Report »kurz vor der Staatspleite«.

 

»Was wir sehen ist, dass die Pandemie solche Länder weiter schwächt,
die ohnehin schon wirtschaftlich instabil waren, beispielsweise Angola,
Ecuador oder Surinam«, bemerkte Klaus Schilder, Experte für
Entwicklungsfinanzierung bei Misereor. So hätten insbesondere
Rohstoffexporteure wie etwa Mosambik, Sambia und die Mongolei heftige
Einbußen infolge des Zusammenbruchs der weltweiten Lieferketten
erlitten. In vielen Fällen sei dazu der Tourismus als wichtige
Einnahmequelle bis zum heutigen Tage praktisch komplett weggefallen,
heißt es in der Studie. Auch Rücküberweisungen von Menschen, die im
Ausland arbeiten und ihre Familien in der Heimat unterstützen, seien
massiv zurückgegangen, worauf die Ausfälle in großem Stil durch
Kreditaufnahmen kompensiert worden seien.

 

An der zugespitzten
Abhängigkeit des abgehängten Teils der Erde änderte auch der Schritt der
führenden G-20-Industriestaaten wenig, den Bedrängten seit April 2020
bis planmäßig 31. Juni 2021 ein Schuldenmoratorium zu gewähren. Im
Rahmen dieser »Debt Service Suspension Initiative« (DSSI) hat etwa
Deutschland 135 Millionen Euro an Schulden gestundet, womit die
Zahlungsverpflichtungen aber bloß in die Zukunft verschoben wurden. Eine
Hypothek ist auch das Vorgehen des IWF, der knapp 30 Staaten rund eine
halbe Milliarde Dollar an Schuldendienstzahlungen erlassen hat. Das Geld
aus dem fraglichen Hilfsfonds CCRT (Catastrophe Containment and Relief
Trust) stammt von den IWF-Mitgliedern und laut Report ist damit zu
rechnen, dass die Zuschüsse aus den Entwicklungsetats abgezweigt werden,
die dann für die Finanzierung anderer Aufbauprojekte fehlen.

 

Was es statt dessen dringend brauche, »sind echte Schuldenerlasse«,
bekräftigte Rehbein. »Nur so lässt sich verhindern, dass die Pandemie zu
einem verlorenen Entwicklungsjahrzehnt für den Globalen Süden wird.«
Ein entsprechender Prozess ist zwar angedacht. Der vorgesehene »Common
Framework for Debt Treatments beyond the DSSI« dürfe aber »nicht nur auf
Absichtserklärungen und wenige Einzelfälle beschränkt bleiben«, mahnte
Rehbein. Auch müssten private Gläubiger zur Mitwirkung bei der Lösung
von Verschuldungskrisen verpflichtet werden, ergänzte Schilder. An die
Bundesregierung appellierte er, sich innerhalb der G20 endlich für die
Einrichtung eines »fairen und transparenten Staateninsolvenzverfahrens
für hochverschuldete einzusetzen.

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