Sanktionen der Jobcenter so streng wie immer. Jugendliche und Migranten traf es besonders häufig

 

Aus: Ausgabe vom 11.10.2018, Seite 5 / Inland

450.000mal Existenznot

Sanktionen der Jobcenter so streng wie immer. Jugendliche und Migranten traf es besonders häufig. Berlin bleibt Spitzenreiter

Von Susan Bonath
    
»Macht kaputt, was euch kaputt macht«: Farb- und Steinwurf gegen das Jobcenter Berlin-Mitte (28.6.2016)

Kapitalismus produziert Erwerbslosigkeit. Doch die Politik schiebt
die Schuld dafür den Betroffenen selbst in die Schuhe. Sie seien faul,
machten es sich bequem: Begleitet von derlei Propaganda und mit dem
offen erklärten Ziel, den Niedriglohnsektor auszubauen, legte die
Bundesregierung 2005 die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum
Arbeitslosengeld II zusammen. Das im Volksmund nach dem Vorsitzenden der
damaligen Vorbereitungskommission, dem vorbestraften früheren
Volkswagen-Manager Peter Hartz, benannte Regelwerk baut auf harte
Strafen. Im ersten Halbjahr 2018 schlugen die Jobcenter dabei wieder
kräftig zu: Rund 450.000mal kürzten sie Hartz-IV-Beziehern die als
Existenzminimum deklarierten Bezüge für jeweils drei Monate. Das ergibt
eine neue Statistik, welche die Bundesagentur für Arbeit (BA) am
Mittwoch vorlegte.

Im Schnitt strichen die Behörden den
Betroffenen danach monatlich 110 Euro. Mehr als drei Viertel aller
Strafen verhängten sie wegen eines versäumten Termins beim Jobcenter
oder dem ärztlichen Dienst. Nur jede zehnte Sanktion betraf Menschen,
die eine Maßnahme, Ausbildung oder einen Job abgelehnt hatten. Der Rest
verstieß gegen andere Auflagen, wies etwa zu wenige Bewerbungen nach
oder reichte Dokumente zu spät ein. Für ein Meldeversäumnis schreibt das
Gesetz eine Kürzung von zehn Prozent des Regelsatzes vor. Bei anderen
Vorwürfen streichen Jobcenter über 25jährigen zunächst 30, beim zweiten
»Vergehen« 60 Prozent. Danach fallen alle Bezüge inklusive der Miete
weg. Besonders repressiv richtet sich das Gesetz gegen 15- bis
24jährige: Bei der ersten »Pflichtverletzung« fällt der Regelsatz weg,
beim zweiten Mal auch die Mietbeihilfe.

Neben Sozialverbänden
hatten auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages dieser Praxis
bescheinigt, zur Verelendung massiv beizutragen. In ihrer Auswertung
vom Februar 2017 heißt es etwa, hohe Sanktionen führten besonders bei
Jugendlichen zu schwerwiegenden psychosozialen Problemen, in vielen
Fällen zu Überschuldung, medizinischer Mangelversorgung, Obdachlosigkeit
und Hunger. Dennoch waren 25jährige im ersten Halbjahr 2018 erneut
überproportional betroffen. Fast ein Viertel aller Strafen erging gegen
sie. Monatlich sanktionierten Jobcenter insgesamt rund 7.000 Menschen
vollständig, knapp die Hälfte von ihnen war jünger als 25 Jahre. Auch
Migranten bestraften Jobcenter besonders häufig. Jede vierte Sanktion
betraf einen Leistungsbezieher nichtdeutscher Herkunft. Dazu gehören
auch viele Geflüchtete. Sie fallen unmittelbar nach der Anerkennung in
das System.

Politiker der CDU, CSU, FDP, AfD und der SPD rechtfertigten die
Praxis in der Vergangenheit unter anderem mit einer niedrigen
Sanktionsquote. Im Juni 2018 lag diese bundesweit bei 3,1 Prozent.
Regional gehen die Jobcenter sehr unterschiedlich vor. So lag die Quote
in Westdeutschland zuletzt bei knapp drei, in Ostdeutschland bei vier
Prozent. Berlin als Hauptstadt des sozialen Elends belegt mit fünf
Prozent erneut Platz eins beim Bestrafen, gefolgt von Sachsen (3,7),
Rheinland-Pfalz (3,4), Brandenburg (3,3), Mecklenburg-Vorpommern und
Thüringen (3,2). Am wenigsten sanktionierten die Jobcenter im Saarland
und in Nordrhein-Westfalen (2,6 Prozent). Die politischen
Rechtfertigungen hinken in weiterer Hinsicht: Im Jahreszeitraum Juli
2017 bis Juni 2018 verhängten die Ämter laut BA rund 930.000 Sanktionen
gegen 412.000 Klienten. Aktuell beziehen 4,1 Millionen Erwerbsfähige
Hartz IV. Damit war tatsächlich erneut jeder Zehnte teils mehrfach
betroffen.

Die Linke verlangt seit Jahren ein Ende der als
»Fordern und fördern« titulierten Bestrafungspraxis. »Die Bestrafungswut
ist ungebrochen«, kommentierte deren Vorsitzende Katja Kipping die
BA-Statistik. Täglich 2.500 Sanktionen brächten Menschen in
existentielle Bedrängnis, um sie zu disziplinieren. »Das schwächt die
Wehrhaftigkeit von Erwerbslosen und Beschäftigten«, so Kipping. Ebenso
plädierten die Grünen dieser Tage erneut für eine »würdevolle und
sanktionsfreie Grundsicherung«. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
sollte schon im vergangenen Jahr entscheiden, ob Hartz-IV-Sanktionen
gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und
freie Berufswahl verstoßen. Doch die entsprechende Vorlage des
Sozialgerichts Gotha hängt bis heute in der Warteschleife.

https://www.jungewelt.de/artikel/341414.hartz-iv-450-000mal-existenznot....

 

 

Hartz-IV-Sanktionen

"Die Leute werden an den Rand gedrängt"

Die Bundesagentur für Arbeit spricht im Jahr etwa 950 000
Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger aus. Die allermeisten, weil die
Betroffenen einen Termin im Jobcenter nicht wahrnehmen. Soziologin
Dorothee Spannagel erklärt, warum das ein Irrweg ist.

    Interview von Thomas Hummel

    Seit Beginn des Hartz-IV-Systems vor fast 14
    Jahren stehen die Begriffe "Fördern und Fordern" im Mittelpunkt. Unter
    "Fordern" fällt das Sanktionssystem: Hält sich ein Empfänger nicht an
    die Regeln, kürzt das Jobcenter
    dessen finanzielle Bezüge. Die Bundesagentur für Arbeit äußert sich
    diesen Mittwoch zum aktuellen Stand der Entwicklungen, auf ihrer
    Internetseite steht, dass sie zwischen Juni 2017 und Mai 2018 insgesamt 950 000
    Sanktionen ausgesprochen hat. Dabei ist nur ein geringer Anteil der
    mehr als vier Millionen Leistungsbezieher betroffen, viele der
    Sanktionierten trifft es also mehrfach.

    Die Soziologin Dorothee Spannagel, 38,
    beschäftigt sich im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut
    der Hans-Böckler-Stiftung, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehört,
    unter anderem mit dem Hartz-IV-System und stellt den Sinn der Sanktionen
    in Zweifel.

    SZ: Frau Spannagel, was halten Sie von Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher?

    Dorothee Spannagel: Der Hartz-IV-Satz ist das sozialrechtlich
    garantierte Existenzminimum, es orientiert sich am Sozialhilfesatz. Der
    Staat definiert hier ein Einkommen, das man mindestens braucht, um an
    dieser Gesellschaft aktiv teilhaben zu können. Das in manchen Fällen zu
    kürzen, halte ich für extrem problematisch. Die Leute werden an den Rand
    gedrängt und marginalisiert. Sie kriegen zum Teil
    Lebensmittelgutscheine. Das ist ein Armutszeugnis für
    diese Gesellschaft.

    Warum stehen die Sanktionen in der Politik dennoch kaum zur Debatte?

    Weil man sich dann mit dem ganzen System auseinandersetzen
    müsste. Dann würde man sehen, dass eine Gruppe von Menschen da einfach
    nicht reinpasst. Hartz IV
    war nie darauf ausgelegt, dass sich Menschen länger darin aufhalten.
    Sondern schnell wieder in Arbeit gelotst werden. Bei manchen ist das
    aber nicht möglich. Diese Gruppe ist stark von den Sanktionen betroffen.
    Darunter fallen etwa Geringqualifizierte und Menschen mit
    gesundheitlichen oder familiären Problemen. Für sie brauchen wir
    öffentlich geförderte Beschäftigung.

    Auch Migranten werden vergleichsweise häufig sanktioniert.

    Das Hartz-IV-System ist hoch komplex. Das ist für viele
    deutschsprachige Antragsteller nicht einfach, für Migranten oft ungleich
    schwerer. Das betrifft einerseits die Bürokratie, andererseits auch das
    kulturelle Verständnis für amtliche Vorgänge. Deshalb erhalten sie
    häufig Sanktionen. Dies ist aber kein Zeichen dafür, dass Migranten
    weniger motiviert sind, eine Arbeit zu finden. Sondern dass sie
    besonders viel Unterstützung brauchen.

    https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/hartz-iv-sanktionen-interview-1.4...

     

     

     

    Weniger Strafen für Hartz-Empfänger

    FR 11.10.18