Sanktionen, Druck, prekäre Jobs: Laut einer Umfrage fürchten drei Viertel das Hartz-IV-Regime

Aus: Ausgabe vom 30.07.2019, Seite 5 / Inland
Sozialstaat

Angst vor dem Abstieg

Sanktionen, Druck, prekäre Jobs: Laut einer Umfrage fürchten drei Viertel das Hartz-IV-Regime
Von Susan Bonath
Hartz IV schürt Angst. Das ist lange bekannt und mit etlichen Studien
untermauert. Auch eine repräsentative Umfrage des Instituts Infratest
dimap im Auftrag der ARD kam nun zu diesem Ergebnis, wie am Sonntag die Nachrichtenagentur dpa
meldete. Danach stimmten gut drei Viertel der Befragten der Aussage zu,
seit Einführung von Hartz IV sei das Risiko gewachsen, im Alter arm zu
sein. Zwei Drittel gaben an, das Repressionsinstrument fördere die
Furcht vor dem sozialen Abstieg. Ebenso viele machten die Hartz-Gesetze
für den Boom des prekären Arbeitsmarktes inklusive des
Niedriglohnsektors verantwortlich.

Nur rund ein Drittel meinte hingegen, die zwischen 2003 und 2005 unter Bundeskanzler Gerhard
Schröder (SPD) eingeführten Arbeitsmarktreformen hätten dazu
beigetragen, die Erwerbslosenzahlen zu senken und die deutsche
Wirtschaft anzukurbeln. Zugleich deutet die Umfrage auf eine nachhaltige
Entsolidarisierung von Beschäftigten mit Hartz-IV-Betroffenen hin. Fast
alle, 94 Prozent, bejahten die pauschale Aussage, dass Arbeiter mehr in
der Tasche haben müssten als erwerbslose Lohnabhängige.

Unbegründet ist die Angst nicht. Bereits im vorvergangenen Jahr arbeitete laut
Bundesregierung jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnsektor,
in Ostdeutschland sogar jeder Dritte – Tendenz steigend. Dem folgend,
steigt auch die Altersarmut. 9,3 Millionen Ältere – das ist mehr als
jeder zweite Rentner – müssen in Deutschland aktuell mit weniger als 900
Euro über den Monat kommen, wie vergangene Woche aus einer Antwort der
Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion hervorging.

Auch die Erkenntnis ist nicht neu. Bereits Anfang 2017 waren die
Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einer Auswertung
zahlreicher Studien zu dem Schluss gekommen, vor allem hohe Kürzungen
von mehr als 30 Prozent hätten häufig »schwerwiegende negative Folgen
für die Lebenslagen der Sanktionierten«. Psychisch trete meist eine
»lähmende Wirkung« statt der beabsichtigten Anpassung ein, Erkrankungen
wie Depressionen verschärften oder entwickelten sich. Sozial führten
harte Sanktionen zu mangelnder Ernährung und medizinischer Versorgung
bis hin zu Hunger und Obdachlosigkeit.

Wenig später, Ende 2017, kam die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in einer Studie zu dem Schluss,
das Hartz-IV-Regime produziere vor allem durch die Sanktionspraxis, aber
ebenso durch Gängelei der Betroffenen »massive Angstzustände, welche
zwar einerseits Anpassungsbereitschaft erzeugen, aber zugleich die
soziale Integration strapazieren«. Dies zwinge Menschen nicht nur, zu
miserablen Bedingungen zu arbeiten. Es trage auch maßgeblich zum
Erstarken rechtspopulistischer Kräfte bei und schüre Aggressionen gegen
Schwächere, so die FES.

Zwar streitet die gemeinsam mit CDU und CSU regierende SPD seit ihrer
Schlappe bei der Bundestagswahl 2017 öffentlich um das Thema; einige
Parteilinke plädierten sogar dafür, die Hartz-IV-Sanktionen komplett
abzuschaffen. Nur geschehen ist bisher nichts. Auch das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe tut sich schwer. Es muss
über eine Beschlussvorlage aus dem Jahr 2016 entscheiden, in welcher das
Sozialgericht Gotha die Sanktionspraxis als Verstoß gegen die
Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie
Berufswahl gewertet hatte. Bereits am 15. Januar hat es dazu verhandelt.
Wann es eine Entscheidung verkünden wird, steht weiterhin nicht fest,
wie BverfG-Sprecher Max Schoenthal am Montag auf jW-Nachfrage sagte.

Die frühere Jobcentermitarbeiterin und Hartz-IV-Kritikerin Inge Hannemann
(Die Linke) spricht von einer »bewussten Verschleppung«. »Karlsruhe
wartet offenbar darauf, was sich in der Politik tut«, sagte sie am
Montag im Gespräch mit jW. Andersherum lasse die Politik
vermutlich Zeit verstreichen mit Blick auf das grundlegende Urteil. »Sie
schieben sich den Ball hin und her«, so Hannemann. Auch zur Angst der
Betroffenen kann sie einiges aus ihrer Erfahrung erzählen. »Viele machen
lieber zwei, drei prekäre Jobs, als in Hartz IV zu rutschen.« Erstens
seien die Bezüge viel zu gering. Viele müssten umziehen, wobei es
vielerorts keine Wohnungen unterhalb der Mietobergrenzen gebe. Zweitens
hätten sie Furcht vor Gängelei und Sanktionen. Hannemann glaubt: »Genau
das ist gewollt.« Das Umfrageergebnis habe sie dennoch überrascht. Es
sei »gut, wenn immer mehr Leuten die Absicht hinter Hartz IV bewusst
wird«, sagte sie.