Aus: Ausgabe vom 01.10.2015, Seite 8 / Inland
»Auf die Straße gesetzt, weil sie die Norm nicht erfüllten«
Deutsche Straßenkinder und junge unbegleitete Flüchtlinge fordern
Grundrecht auf Wohnen und Versorgung. Ein Gespräch mit Jörg Richert.
Interview: Susan Bonath
Jörg Richert ist Geschäftsführer des Vereins »KARUNA – Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not«
Ihr Verein, der sich um obdachlose Jugendliche kümmert, hat
vergangenen Freitag in Berlin die 2. Konferenz der Straßen- und
Flüchtlingskinder mit über 100 Betroffenen organisiert. Was ist Ihr
Resümee?
Die Jugendlichen haben viel Auftrieb bekommen. Sie haben sich
Gedanken über ihre Wünsche gemacht, eine Arbeitsgruppe hat sogar bis
drei Uhr morgens diskutiert. Das ist genau unser Ziel – vielleicht sind
wir in zwei, drei Jahren so weit, dass wir nur noch wenig beim Planen
der Konferenz helfen müssen. Es gibt schon eine Jugendvertretung, unser
Ziel ist es, sie mit Bundesfreiwilligenstellen auszustatten. Vor allem
logistisch ist ein solches Treffen eine enorme Herausforderung, die wir
neben dem normalen Wahnsinn stemmen.
Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts spricht von etwa
21.000 »komplett entkoppelten« Minderjährigen und rund 30.000 Menschen
im Alter von 18 bis 27. Gibt es eine Dunkelziffer?
Ich bin zunächst einmal froh, dass es überhaupt Zahlen gibt. Ich
denke aber, dass das tatsächliche Ausmaß noch unterschätzt wird.
Diejenigen, die völlig abtauchen – das ist leider eine Tendenz – kommen
bei keiner Befragung und in keiner Akte vor. Ich kenne etliche, die in
Notschlafstellen auftauchen und wieder verschwinden. Manche geraten in
zwanghafte Beziehungen zu Männern oder tauchen bei Freunden unter.
Was sind die gravierendsten Probleme der Betroffenen?
Sie sind nicht krankenversichert, leben vom Betteln, vom Verkauf von
Obdachlosenzeitungen oder von Diebstählen. Sie klinken sich aus, sie
haben kein Vertrauen mehr. Es fehlen familiäre und gesellschaftliche
Bindungen, viele sind total isoliert. Ich sehe in
Berlin oft junge Leute in so schlechtem Gesundheitszustand, dass ich
eigentlich den Arzt holen müsste.
Auf der Konferenz kritisierte einer dieser Jugendlichen, die
Anforderungen seien viel zu hoch, die ihnen das Jugendamt als Bedingung
für eine Hilfe auferlegt …
Es fließt viel Geld in Angebote, die den Jungen und Mädchen
Leistungen abverlangen, die sie völlig überfordern. Sie schaffen es dann
von einer Notaufnahmestelle zur nächsten, wo sie nur kurzzeitig bleiben
können. In der Jugendhilfe ist die Haltung verbreitet: Wenn du was
haben willst, musst du eine bestimmte Ausbildung absolvieren, dich in
der Schule bemühen, in die Gruppe einfügen oder ähnliches. Das kann man
nicht mit Menschen machen, die in existentieller oder seelischer Not und
meist durch ihre Geschichte schon traumatisiert sind.
Auch Heime fordern von Minderjährigen ständiges Wohlverhalten als
»Gegenleistung«. Alleine in Berlin werden jedes Jahr etwa 400
Minderjährige von Hilfseinrichtungen mit der gesamten Habe in einer
Mülltüte auf die Straße gesetzt, weil sie die verlangten Normen nicht
erfüllt haben.
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) versprach bei
der Tagung zwar kleinere Hilfen, schob die Verantwortung den Ländern
zu. Nimmt die Politik Betroffene überhaupt ernst?
Immerhin hat sie zugegeben, dass das Jugendhilfesystem kurz vor dem
Kollaps steht und versprochen, genauer hinzuschauen. Sie darf zwar
kleine Projekte finanzieren, aber nicht in den Kompetenzbereich der
Bundesländer eingreifen. Ihre jetzigen Vorhaben, etwa Theatergruppen zu
gründen, werden marginal vom Bund unterstützt. Dies setzt aber nicht an
der existentiellen Versorgungsnot der Jugendlichen an.
Was wir indes brauchen, sind Formen der Sozialarbeit, bei der
Jugendliche eigene Erfahrungen machen können. Nötig ist bezahlbarer
Wohnraum. Unsere Idee sind Gemeinschaftshäuser, die vor Obdachlosigkeit
bewahren, und eine bundesweite Notrufnummer für Straßenkinder. In
Dänemark werden beispielsweise bedingungsloses Wohnen und eine
Grundversorgung angeboten. Dort hat man die Erfahrung gemacht, dass
Jugendliche dann meist von selbst nach kurzer Zeit Hilfe annehmen.
Die Jugendlichen äußerten auf der Konferenz den Wunsch, mit
minderjährigen Flüchtlingen, die auch oft auf der Straße landen,
zusammenzuleben. Schweißen erlebte Traumata zusammen?
In Berlin haben wir zur Zeit etwa 700 unversorgte junge Flüchtlinge;
in München und Hamburg herrschen ähnlich katastrophale Zustände. Aus
eigener Erfahrung und Not heraus denken Straßenkinder eher
gemeinschaftlich; sie wollen nicht, dass es anderen auch noch schlecht
geht. Ihre Erfahrungen haben sie sensibler gemacht – allerdings gibt es
auch junge Leute, die fürchten, nun noch weniger beachtet zu werden.