Tafeln versorgen regelmäßig etwa 1,5 Millionen Menschen

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Tafeln in NRW - "Entweder hungern oder hier hin gehen"

14.01.2015 | 12:14 Uhr

Pensionär Eduard Krüssel verteilt in Düsseldorf während der Lebensmittel-Ausgabe in der Derendorfer Zionskirche Gemüse.Foto:

Der Gang zur Tafel ist für viele mit Selbstüberwindung verbunden.
Mit Hartz IV, kleiner Rente oder als Alleinerziehende geht es oft aber
nicht anders.

Kurz vor 13 Uhr, Nervosität
kommt auf: "Das ist wirklich wenig", sagt Bruni Stolz (69) und schaut
skeptisch an der U-förmig aufgestellten Tafel der Düsseldorfer Diakonie
entlang: Körbeweise Brot stehen da, Kisten voller Obst und Gemüse. Nur
Milchprodukte sucht Stolz vergeblich. Die Lücken werden kurzerhand mit
Weihnachtsschokolade aufgefüllt - und dann brummt es doch noch in der
Einfahrt: "Es kommt noch ein Wagen", ruft Sozialarbeiterin Andrea
Schmitz, Organisatorin der Lebensmittel-Ausgabe, in den Vorraum der
Kirche. Erleichterung.

Eigentlich sollte es jetzt losgehen. Seit
12 Uhr schon stehen einige Bedürftige vor der Tür der
Lebensmittel-Ausgabe. Heute verzögert sich die Prozedur allerdings - die
gerade gelieferten Lebensmittel müssen noch ausgeräumt und sortiert
werden. Palettenweise tragen die Mitarbeiter Joghurt, Obst und Gemüse
hinein. "Es ist ganz schön viel zu schleppen", sagt Bruni Stolz. Gut 180
Haushalte aus dem Düsseldorfer Norden versorgt die Ausgabestelle jeden
Donnerstag.

"Manche könnte auf der Kö spazieren gehen"

Gegen
13.30 Uhr dürfen die Kunden endlich hinein, gehen Meter für Meter an
der Tafel entlang, halten dankbar ihre mitgebrachten Plastiktüten,
Jutebeutel und Rollwagen auf. Erst Familien, dann Alleinstehende - so
ist die Regel. "Manche könnten genauso gut auf der Königsallee spazieren
gehen - und würden nicht mal auffallen", sagt Marius Hansmann (19). Er
ist der einzige Jugendliche in einem Team, das sonst ausschließlich aus
Rentnern besteht, trägt schwarzen Kapuzenpullover und absolviert
Bundesfreiwilligendienst in einem Obdachlosen-Café.

Eduard
Krüssel (73), der ebenfalls hilft, ist nicht Rentner, sondern Pensionär.
"Ich habe viel Gutes von der Gesellschaft bekommen", sagt der ehemalige
Landesbeamte. Davon wolle er etwas zurückgeben. "Obdachlose kommen
nicht hier her", sagt Krüssel. Die hätten keine Möglichkeit, die
Lebensmittel zuzubereiten. Stattdessen: Hartz-IV-Empfänger,
Asylbewerber, Alleinerziehende und Rentner.

Scham baut sich ab

Eine
von ihnen ist Sandra Schulze (41): alleinerziehend, Mutter zweier Söhne
(19, 17), Großmutter einer Enkelin (2). Stolz zeigt sie ein Foto ihrer
"Maus" - es ist das Hintergrundbild ihres Smartphones. Trotz halber
Stelle bei der Stadtbücherei reicht das Geld nicht, Schulze ist
Aufstockerin. "Ich bin froh um jedes Teil, das ich nicht kaufen muss."
Anfangs, vor zwölf Jahren, habe sie sich geschämt, zu kommen. Heute weiß
sie: "Entweder hungern oder hier her gehen." Gerade kam die
Nebenkostenabrechnung: 630 Euro Nachzahlung.

Neben ihr steht
Frührentnerin Beate Staude (56): modische Kurzhaarfrisur,
ausdrucksstarke Brille, offenes Lachen. Sie kommt - mit Unterbrechungen -
seit zehn Jahren zur Ausgabestelle der Diakonie, hat mehrere
Krebserkrankungen hinter sich und kann deshalb nicht mehr arbeiten. Die
kleine Rente plus Grundsicherung würde zum Leben nicht reichen. Ohne
Tafel, sagt Staude, käme sie mit ihrer 16-jährigen Tochter nicht über
den Monat. Scham? Nicht mehr. "Es ist ja nicht so, dass ich nicht
arbeiten will - ich kann nicht." Die Krankheit.

Rentner, Flüchtlinge und Alleinerziehende in Not

"Es
gibt in unserem Land sehr viele Verlierer", sagt der Vorsitzende des
"Bundesverbands Deutsche Tafeln", Jochen Brühl. Und nennt die Tafeln
einen "Seismographen für gesellschaftliche Entwicklungen". Aktuell
schlägt der Seismograph Brühl zufolge besonders bei Rentnern,
Flüchtlingen und Alleinerziehenden aus. Es sei bezeichnend, dass Kinder
mit dem Thema Armutsrisiko verbunden sind. Brühl wünscht sich, dass an
politischen Ursachen gearbeitet wird. Bildungschancen dürften nicht
abhängig vom Bildungsgrad der Eltern sein, Menschen müssten von ihrer
Arbeit leben können.

919 Tafeln sind derzeit im Bundesverband
zusammengeschlossen, 60.000 Helfer engagieren sich ehrenamtlich. Sie
versorgen regelmäßig etwa 1,5 Millionen Menschen, von denen knapp ein
Drittel Kinder und Jugendliche sind. Die erste Tafel wurde 1993 in
Berlin gegründet.

Zwölf Tonnen Lebensmittel pro Tag

Mit
166 Tafeln herrscht in NRW eine verhältnismäßig hohe Dichte.
"Nordrhein-Westfalen ist ein Ballungsraum - hier gibt es viele Menschen,
die sich engagieren, aber auch viele Menschen, die von Armut betroffen
sind", erklärt Brühl. Allein die "Düsseldorfer Tafel" beliefert
wöchentlich neun Ausgabestellen mit rund zwölf Tonnen Lebensmitteln.

In
der Derendorfer Kirche ist jeder einzelne dankbar. Wünschen versuchen
die Ehrenamtler gerecht zu werden. "Bitte Herz-Salat", sagt eine junge
Frau. Marius Hansmann, der junge Helfer in Kapuzenpulli, wühlt kurz im
Korb und fischt zwei Salatherzen hervor. "Danke sehr", sagt die Frau -
und lächelt verlegen. (dpa)