UN-Bericht: Armut nimmt in Industriestaaten wegen prekärer Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu

Aus: Ausgabe vom 19.05.2016, Seite 2 / Ausland

Kapitalismus macht arm

UN-Bericht: Armut nimmt in Industriestaaten wegen prekärer Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu

Not in Rom: Behausung von Obdachlosen in der italienischen Hauptstadt

Foto: Max Rossi / Reuters

Die Lüge, jeder könne es im Kapitalismus zu etwas bringen, gehört zum
Grundrepertoire der bürgerlichen Ideologie. Für alle, die es nicht
schaffen, existierte knapp ein halbes Jahrhundert ein Sozialstaat. Doch
dieser wird spätestens seit dem Sieg der Konterrevolution über den
Sozialismus demontiert. Das Resultat ist, dass in den westlichen
Industrie­ländern die Anzahl von gesicherten Vollzeitstellen sinkt und
es gleichzeitig immer mehr Erwerbsarmut gibt.

Laut einem am Mittwoch in Genf vorgestellten Bericht der
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nimmt die Armut infolge von
Arbeitslosigkeit und wegen schlecht bezahlter Beschäftigung zu. »In
vielen Industrieländern können Sozialleistungen einfach nicht mehr die
Einkommenslücke erwerbsarmer Menschen kompensieren«, sagte der
ILO-Generaldirektor, Guy Ryder, am Mittwoch zur Vorstellung des jüngsten
Weltarbeitsmarktberichts der UN-Sonderorganisation. Laut ILO hat sich
diese Entwicklung seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008
verschärft.

Armut in Sevilla: Bunt ist die Werbung, doch die Geldbörsen sind leer

Foto: Marcelo del Pozo/Reuters

Der Studie zufolge gelten im Durchschnitt 17,2 Prozent der
EU-Bevölkerung als arm – gemessen am jeweiligen mittleren Einkommen
ihrer Länder. In Deutschland, einem der reichsten Staaten der Welt,
seien es 16 Prozent. Als arm wird dabei angesehen, wer einschließlich
staatlicher Hilfeleistungen mit weniger als 60 Prozent des mittleren
Einkommens seines Landes auskommen muss. Demnach wäre in der BRD jeder
zehnte trotz Arbeit arm, erklärte die ILO. Außerdem seien Erwerbslose in
Deutschland im Vergleich zum EU-Durchschnitt am ehesten gefährdet, in
Armut abzurutschen. Über 67 Prozent von ihnen seien trotz staatlicher
Leistungen als arm anzusehen. Am besten schneide in dieser Hinsicht
Dänemark ab, wo laut ILO knapp 28 Prozent der Arbeitslosen als arm
gelten würden. Die Organisation stützt sich auf die Auswertung von Daten
von Eurostat, dem statistischen Amt der EU.

Bei der Bewertung der Entwicklung hierzulande wurde indes der im
vergangenen Jahr eingeführte gesetzliche Mindestlohn noch nicht
berücksichtigt. Wahrscheinlich werde dieser helfen, Armut zu verringern,
erklärte einer der Autoren der Studie, Raymond Torres. Ihm zufolge sei
zwar in der Bundesrepublik die Erwerbslosenquote niedrig, doch vor allem
seien Menschen mit keinem oder niedrigem Bildungsabschluss seien davon
betroffen. (dpa/jW)

https://www.jungewelt.de/2016/05-19/007.php